KammerKultur in geheimen Räumen
Kunstperformance von erschütternder Aktualität
Das Gewinner-Projekt des Ideenwettbewerbs „Geheime Räume“ der Kulturellen Bildung und Teilhabe in Oldenburg ist in kongenialer Zusammenarbeit von Helmut Feldmann (Malerei), Yvonne Franke und Sebastian Netta (Kammerkultur, Video/Inszenierung) und Jo Schmitt (Schauspiel) Anfang 2023 umgesetzt worden. Die Kunstperformance „Muttererde“ ist auf YouTube » als 360-Grad-Video mit Spatial Audio zu sehen. Die Besonderheit: Die Betrachterinnen und Betrachter können den Blick- und Hörwinkel im Video selbst steuern.
„In den intensiven und lehrreichen Prozess der Entwicklung dieses Werkes waren die vier Künstlerinnen und Künstler aktiv involviert“, berichtet Christiane Maaß vom Kulturbüro der Stadt Oldenburg. „Wir wünschen uns, dass davon ein starker Impuls für die Kulturelle Bildung und Teilhabe in Oldenburg ausgeht.“
Auseinandersetzung mit letzten Feldpostbriefen des Großvaters
Im Fokus des Gesamtkunstwerks steht das Triptychon (dreigeteiltes Gemälde) mit dem Titel „Muttererde“ des Oldenburger Künstlers und Kunstvermittlers Helmut Feldmann. Entstanden ist es 2001 aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit den letzten Feldpostbriefen seines Großvaters Johann Feldhoff aus dem 2. Weltkrieg.
„Muttererde zeigt den Menschen in seiner unverhüllten Gestalt, aus Erde kommend und wieder zu Erde werdend”, möchte Helmut Feldmann seinem Werk eine tiefe humane Bedeutung zukommen lassen. Zugleich gewinnt es vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine eine erschütternde Aktualität. „Die Auswirkungen von Krieg werden durch Kunst ein Stück weit greifbarer und fühlbar gemacht“, so Yvonne Franke. „Bei den Briefen handelt es sich um Dokumente der Zeitgeschichte mit lokalem Bezug zu Oldenburg. Hier kann die Kunst erzählen und die Ausnahmesituation und die damit verbundenen Gefühle und Zustände vermitteln.“
Einzigartige Präsentation im Südwestturm der Lambertikirche
In intensiven Gesprächen mit Helmut Feldmann wurde die Intention des Gesamtkunstwerks von Yvonne Franke (Dortmund) und Sebastian Netta (Münster) als Kunstperformance erarbeitet. Die Idee, das Triptychon im Südwestturm der Lambertikirche in Oldenburg einmalig in einem „geheimen Raum“ auszustellen, konnte dank der freundlichen Genehmigung der Kirchengemeinde Ende Januar 2023 umgesetzt werden.
„Den nicht öffentlich zugänglichen Südwestturm haben wir so belassen, wie wir ihn vorgefunden haben“, erläutert Sebastian Netta (Wald- & Wiesenkonzerte). „Lediglich Licht wurde notwendigerweise zur Inszenierung installiert und auf das Triptychon ausgerichtet.“ Yvonne Franke fügt hinzu: „Die Präsentation des Kunstwerks ist einzigartig, Vernissage und Finissage in einem Prozess und nicht wiederholbar. Das Kunstwerk fügt sich durch die durchdachte Hängung in den Turm ein, was durch die Farbharmonie des Mauerwerks mit den von Feldmann verwendeten Farben in Einklang steht.“
Berührende schauspielerische Umsetzung
Für die Lesung der Feldpostbriefe konnte der in Oldenburg lebende Schauspieler Jo Schmitt gewonnen werden. Jo Schmitt als einziger Protagonist im Raum bringt dem Zuschauer die Intimität dieser persönlichen Briefe durch seine Umsetzung berührend nahe. Die Briefe wurden am 7. und 8. September 1942 von Johann Feldhoff nahe Noworossijsk (russische Küstenstadt am Schwarzen Meer) verfasst und per Feldpost an die Familie versendet. Am 9. September 1942 kam Johann Feldhoff ums Leben. Dies wurde der Familie in einem Brief des Kommandanten vom 10. September 1942 mitgeteilt.
Kunstprojekt erforscht außergewöhnliche Orte für individuelles Kunsterleben
KammerKultur in geheimen Räumen
Eine Cellistin übt in einer stillen Kammer. Klassische Streichermusik auf dem Dachboden des ältesten Hauses in Oldenburg. Mediterrane Pflanzen in einem alten Gewächshaus, die per MIDI-Computer musizieren. Ein Jazzmusiker im Dialog mit den Pflanzen unter dem Glasdach des Gewächshauses. Ungewöhnliche Orte für Kultur, geheime Orte, Escape-Rooms vom öffentlichen Trubel. All das können Zuschauerinnen und Zuschauer, Hörerinnen und Hörer erleben beim Projekt „KammerKultur in geheimen Räumen“. Zusätzliche Besonderheit: Mit Hilfe einer neuartigen Technik kann das individuelle Erleben und Erkunden der geheimen Räume auf Youtube » selbst gesteuert werden.
Im Dezember 2021 haben Yvonne Franke und Sebastian Netta den Auftrag vom Kulturbüro der Stadt Oldenburg erhalten, im Rahmen des Kunstprojekts zwei 360-Grad-Videos zu erstellen. „In Zeiten von Corona, Lockdown und Veranstaltungsverboten hat sich notgedrungen auch das Kulturleben aus der Öffentlichkeit zurückgezogen in private, intime Räume“, schildert Christiane Maaß vom Kulturbüro. „Was aus der Not heraus entstanden ist, hat ein bislang ungeschöpftes Potenzial zutage gebracht. Kultur findet an neuen, individuellen Orten statt, die es zu entdecken gilt. Das Publikum selbst kann an diesen Entdeckungen aktiv teilhaben. Es schafft sich seine eigenen geheimen Räume, in der die aus der Öffentlichkeit verdrängte Kultur Zuflucht findet. Es sind also sozusagen Escape Rooms für Kultur entstanden.“
Neueste 360-Grad-Technik
Die 360-Grad-Video-Technik wird bislang vornehmlich beim Sport oder im Immobilienbereich eingesetzt. Die Technologie, insbesondere die Audiotechnologie des Spartial Audio (3D Audio) bei Youtube, befindet sich noch in den Anfangsstadien ihrer Entwicklung. „Wir als Künstler lassen uns immer wieder auf Unbekanntes und Neues ein, um die künstlerische Relevanz zum Beispiel von Videotechnologie zu erweitern“, berichtet Sebastian Netta. „Mithilfe des Kunstauftrages durch die Stadt Oldenburg konnten wir ein neues und verbindendes Element der Youtube-Welt hinzufügen. Dieses Projekt ist einzigartig und der Beginn einer Reihe von künstlerischen Hybrid-Konzeptionen, die wir etablieren möchten.“
Bei der „KammerKultur in geheimen Räumen“ steht jedoch nicht die Technologie im Vordergrund, sondern die Darstellung von Raum und künstlerischen Fähigkeiten, oder auch die ungeschönte Darstellung von Arbeitsvorgängen. Die beteiligten Musikerinnen und Musiker Gerke Jürgens (Cello) und Martin Flindt (Gitarre) haben sich auch im Sinne eines „Work in Progress“ eingebracht. Das Projekt entfaltet aber erst seinen vollen Reiz, wenn die Betrachtenden die Regie im Raum übernehmen und sich die Zeit nehmen, den Raum auf sich wirken zu lassen. Seine Eindrücke kann das Publikum über Kommentarfunktionen unter den Videos einbringen.
„Die Videos sind in unserer Website eingebettet und können in 360 Grad nur auf Youtube selbst oder in der App auf dem Handy angesehen werden, wenn es sich drehen soll“, erklärt Sebastian Netta. „Auch der Sound wandert mit. Das hört man aber nur, wenn man Kopfhörer trägt.“ Nettas Tipp für den besonderen Hörgenuss lautet, seine Anlage an den Rechner anzuschließen und direkt neben diesem aufzustellen.
Zuletzt geändert am 8. März 2023