Stolperstein

Anna Gesine Wiechmanns Schicksal steht stellvertretend für Krankenmorde in Wehnen

Stolperstein in der Innenstadt erinnert an Opfer der NS-Euthanasie

Anna Gesine Wiechmann lebte bis 1932 in der Burgstraße 10. Dann wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Wehnen eingewiesen und fiel dort am 9. Mai 1942 der Hunger-Euthanasie des NS-Regimes zum Opfer. Seit Donnerstag, 8. Februar, erinnert an ihrem alten Wohnort ein Stolperstein an ihr Schicksal. Den ins Pflaster der Burgstraße eingelassenen Gedenkstein weihte Oberbürgermeister Jürgen Krogmann im Beisein von Nachkommen Anna Gesine Wiechmanns und Mitgliedern des Gedenkkreises Wehnen ein. Die Gedenkstätte Wehnen hatte die Verlegung initiiert und gemeinsam mit dem städtischen Kulturbüro organisiert. Es ist der erste Stolperstein, der direkt in der Oldenburger Innenstadt verlegt wurde.

Mit den Augen „stolpern“

Krogmann wünscht sich, dass der Stolperstein von vielen Menschen wahrgenommen wird und eine breite Öffentlichkeit auf das Schicksal von Anna Gesine Wiechmann und die Geschichte der NS-Krankenmorde aufmerksam macht. „Man stolpert nicht mit den Füßen über einen solchen Stein, sondern mit den Augen. Die Erinnerung an einzelne Schicksale macht die Verbrechen der NS-Vergangenheit sichtbar. Das ist in diesen Zeiten besonders wichtig“, betonte Oldenburgs Oberbürgermeister. Es sei ihm ein besonderes Anliegen gewesen, mit der Verlegung des Stolpersteins dem Wunsch der Familie Wiechmann zu entsprechen. Das Engagement des Gedenkkreises Wehnen, der sich auf vielfältige Weise für die Erinnerung an die Opfer der NS-Euthanasie in Oldenburg und im Oldenburger Land einsetzt, begrüße er ausdrücklich, so Krogmann.

Gegen das Vergessen – für die Menschenwürde

Die Steinsetzung, betonte Lutz Renken, Vorstandsmitglied des Gedenkkreises Wehnen, stehe auch dem Vergessen und der Verbreitung falscher Geschichtsbilder entgegen. „Wir setzen damit ein Zeichen für die universelle Menschenwürde, die nur in der Demokratie ihre Entfaltungsmöglichkeiten hat.“

Angehörige nehmen teil

Stellvertretend für die Familienangehörigen von Anna Gesine Wiechmann – es gibt noch neun Enkel sowie zahlreiche Urenkel und einige Ururenkel – sprach der aus Dessau mit seiner Frau Renate angereiste Paul Schumann. Der 88-Jährige blickte auf die Lebens- und Leidensgeschichte seiner Großmutter zurück. „Es ist mir eine Ehre, hier dabei zu sein“, sagte er. Der Oldenburger Chor Bundschuh sorgte für eine musikalische Begleitung.

Dem Hungertod ausgesetzt

Der Anna Gesine Wiechmann gewidmete Stolperstein steht nun stellvertretend für ermordete Patientinnen und Patienten, die in Wehnen einem qualvollen Hungertod ausgesetzt waren. In der NS-Psychiatrie galten die meisten psychischen Erkrankungen als erblich und die Kranken als „minderwertig“. Patientinnen und Patienten mit solchen Diagnosen konnten ab 1934 nur entlassen werden, wenn sie zuvor unfruchtbar gemacht wurden. Chronisch Kranke galten als „Ballastexistenzen“, ihnen drohte der Tod. So auch in der Heil- und Pflegeanstalt Wehnen. Ab 1936 war die Verpflegung für viele der Patientinnen und Patienten zu gering zum Überleben. Bis 1947, also lange nach dem Krieg, gingen nach Angaben des Gedenkkreises Wehnen mehr als 1.500 Patientinnen und Patienten an den Folgen des Hungers zugrunde – an Lungenentzündung, Herz- und Kreislaufversagen, Tuberkulose, Typhus und „allgemeinem körperlichen Verfall“, nachzulesen in den Krankenakten.

Zur Person Anna Gesine Wiechmanns

Anna Gesine Wiechmann wurde 1882 in Lindernerfeld/Ocholt als Gesine Hogen geboren und zog in die Stadt, da der elterliche Hof ihr keine Zukunft bot. 1910 heiratete sie den Matrosen Diedrich Wiechmann und brachte ihre Tochter Helene zur Welt, 1913 ihre Tochter Dora. Kurz darauf wurde sie von ihrem Mann verlassen. Im Ersten Weltkrieg schlug sie sich mit einem Job in der Munitionsfabrik Ofenerdiek durch, danach verarmte sie. Ihr wurde das Sorgerecht entzogen, die Töchter fielen der Wohlfahrt zu und wurden im Alter von elf Jahren bei Bauern untergebracht. 1924 kam die dritte Tochter, Gerda, zur Welt, deren Vater starb. Gesine Wiechmann, auf sich allein gestellt, wurde depressiv. Man trennte sie von der Tochter und steckte sie in die Anstalt Wehnen. Dort wurde sie Opfer von Hunger und Vernachlässigung und starb am 9. Mai 1942.

Über die Gedenkstätte Wehnen

Die Gedenkstätte Wehnen wurde 2004 von Angehörigen als Ort der Erinnerung an die Opfer der oldenburgischen NS-Krankenmorde eröffnet. Mehr über die Hintergründe sowie Termine zu Veranstaltungen und Führungen erhalten Interessierte auf der offiziellen Website der Gedenkstätte Wehnen »

Zuletzt geändert am 8. Februar 2024