2020/21 – Jan Brandt

„Die Gangland-Chroniken“

Jan Brandt war sechster Stipendiat

2020 war Jan Brandt Stipendiat des Literaturhauses. Der Schriftsteller erhielt auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium: ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land, das einen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont. Es wird seit 2015 jährlich an eine renommierte deutschsprachige Schriftstellerin oder einen renommierten deutschsprachigen Schriftsteller vergeben und führt die Stipendiatinnen und Stipendiaten in Landkreise und kreisfreie Städte des ehemaligen Landes Oldenburg.

Jan Brandt, geboren 1974 in Leer, Ostfriesland, wuchs im nahe bei Leer gelegenen Ihrhove auf. Er studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, Berlin und London und ist zudem Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München. Sein Romandebüt Gegen die Welt machte ihn 2011 schlagartig bekannt; der Roman wurde 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert und mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Brandts aktuelles Buch Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt (2019) kreist um Stadt und Land, Utopie und Heimat.

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der sechsten Durchführung waren das Schlossmuseum Jever, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch in Kooperation mit dem Kulturzentrum Seefelder Mühle, die Städtische Galerie Delmenhorst, der Bahnhofsverein Westerstede und das Museumsdorf Cloppenburg.

Erkundungstour und Landgang-Text „Die Gangland-Chroniken“

Im September 2020 trat Jan Brandt als sechster Stipendiat seine Erkundungstour durch das Oldenburger Land an. Die Reise führte ihn eine Woche lang durch Cloppenburg, Delmenhorst, Seefeld, Jever, Westerstede und Oldenburg. Weil ihm bewusst war, dass er als Außenstehender in der knappen Zeit nur einen oberflächlichen Eindruck der besuchten Region gewinnen könnte, weil die Entscheidungen für seine Unternehmungen zwangsläufig willkürlich bleiben würden, wäre er gerne vor Ort ungeplant mit Menschen ins Gespräch gekommen. An Stammtischen. An den Theken von Restaurants und Kneipen. Die Rahmenbedingungen seiner Reise gab jedoch 2020 nicht das Literaturhaus, sondern das Coronavirus vor, sodass an spontane Begegnungen nicht zu denken war. Deshalb suchte sich Jan Brandt schon vor dem Antritt seiner Erkundungstour für jede Station einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin. Diese ‚Patinnen und Paten‘ traf er unterwegs und führte lange Gespräche mit ihnen. Sie bilden die Grundlage für die umfangreichen Gangland-Chroniken, die er im Anschluss an die Reise und nach weiteren Recherchen schrieb. 

Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg

2021 bereiste Jan Brandt die fünf Stationen seiner Erkundungstour erneut, diesmal als Veranstaltungsorte für die Lesereise zu seinem Landgang-Text. Wegen coronabedingter Veranstaltungsverbote musste die Reise vom Mai/Juni in den Oktober verschoben werden. Monika Eden begleitete Jan Brandt als Prokjektleiterin und Moderatorin. In Lesung und Gespräch erfuhren die Besucherinnen und Besucher, wie Jan Brandt die Region, die sie selbst aus unmittelbarer Nähe kennen, erlebt und literarisch verarbeitet hat. 

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Jan Brandt bei der Lesung in Oldenburg:

Die Gespräche mit den Patinnen und Paten waren lang, es ist viel Text entstanden: Hast du die ganze Zeit mitgeschrieben oder wie hast du das gesichert?

Ja, ich habe mir Notizen gemacht. Ich habe aber auch die Interviews aufgenommen und anschließend transkribiert, weil sonst einfach zu viel Information verloren ginge, wenn ich alles nur mitprotokollieren würde. Manchmal habe ich Gedächtnisprotokolle angefertigt und dann meinen Paten und Patinnen nochmal geschickt, damit sie, wenn ich manches nicht so genau verstanden habe oder nicht genau einordnen konnte – oder ich konnte meine Schrift nicht mehr lesen –, das richtigstellen konnten.

Und als seriöser Journalist, der du ja auch bist – nicht nur Literaturwissenschaft und Geschichte hast du studiert, sondern auch die Deutsche Journalistenschule in München besucht –, hast du die Texte nicht nochmal mit den Leuten besprochen, aber du hast sie den meisten nochmal vorgelegt, damit sie absegnen konnten, ob es wirklich so war. Im einen oder anderen Fall ging das nicht, in Cloppenburg zum Beispiel.

Ja, weil das Kleinkriminelle waren, die gar nicht wissen, dass ich sie interviewt habe. Denn da hatte ich eigentlich eine Patin vor Ort und das war aber eine Freundin von mir und dann merkte ich: Das ist eigentlich zu persönlich. Das ist dann nicht so einfach über sie zu schreiben, da fehlt die Distanz. Aber es ereignete sich zufällig etwas. Und zwar wohnte ich im Münsterländer Hof am Kreisel und dachte: Oh mein Gott, hier werde ich heute Nacht kein Auge zu tun. So war es dann auch, aber eher als glückliche Fügung, denn abgesehen von den Schweinelastern, die an mir vorbeibretterten, hörte ich irgendwann nachts Stimmen und dann schaute ich aus dem Fenster und sah, dass da zwei junge Männer saßen, die sich gerade darüber unterhielten, dass sie vom Polizeirevier kommen, und die ihre Freunde anriefen, um ihnen zu sagen, dass sie, ja, Hops genommen wurden und Fahrräder geklaut hatten und jetzt aber ihre Freiheit feiern, mit Wodka und Cola, und dass sie doch bitte alle zum Ehrenmal kommen mögen, damit sie diese Befreiung mit ihnen feiern können. Aber es wollte niemand kommen, weil es mitten in der Woche war und, gut, die wurden immer betrunkener und ich habe immer mehr mitgeschrieben. Es war so eine Geschichte, die sich von selbst ergeben hat.

Du hast also mitgeschrieben, du hast wahnsinnig viel Material gesammelt: Wie bist du weiter damit umgegangen?

Naja, also erstmal habe ich es liegen gelassen. Ja, ich kam wieder. Dieser Landgang ist natürlich toll, aber gleichzeitig auch anstrengend, weil es ja wirklich sechs Tage, sechs Orte sind und man immer mit so einer totalen Alarmbereitschaft unterwegs ist; also immer in diesem totalen Wachheitszustand: alles beobachten, zuhören, aufschreiben, notieren, Fotos machen, es kann ja alles wichtig sein, man weiß ja noch nicht so genau, was am Ende daraus wird. Und deswegen habe ich häufig erstmal gedacht: „So viel Material wie möglich aussortieren, kann ich immer noch. Aber das führte dann schon ziemlich schnell – eigentlich schon bei meiner dritten Station – dazu, dass ich merkte, ich kam gar nicht hinterher mit den Notizen und den Gedächtnisprotokollen und so weiter; es geht ja sofort weiter – schon wieder neue Termine vereinbart. Also das war so ein bisschen unter Druck alles und danach war ich erstmal erschöpft und dachte, ich lass das jetzt alles erstmal liegen und guck mir das dann noch mal an, wenn es auf die Lesungen zugeht. 

Und dann ist die Lesereise ja tatsächlich verschoben worden. Eigentlich hättest du etwa ein halbes Jahr Zeit gehabt, zu schreiben, dann kamen jetzt auf einmal – weil, na klar, die Leserreise wie so vieles verschoben werden musste – weitere Wochen und Monate dazu, die du mehr Zeit dafür hattest. War das Fluch oder Segen?

Ja, beides zugleich. Also ich hatte dann Kurzversionen geschrieben für unsere erste Lesereise Ende Mai/Anfang Juni, da hatte ich mich am Umfang der vorangegangenen Stipendiaten orientiert, so 5-6 Seiten zu jedem Ort geschrieben, und dachte eben auch, ich würde dann überall alle Texte vortragen. Dann musste das aufgrund der Bedingungen verschoben werden. Und da habe ich gedacht: Naja, eigentlich wird das den Orten und den Personen, die ich getroffen habe, nicht ganz gerecht. Und habe noch mal in meine ganzen Unterlagen geschaut. Außerdem war es eben auch so viel Material, dass ich dachte, es ist eigentlich schade, da jetzt nur fünf Seiten zu schreiben. Und habe mich noch mal intensiv damit auseinandergesetzt und es wurde dann sehr viel länger. Ich glaube zum Teil – ich weiß gar nicht, was jetzt der längste Ort war – vom Umfang der Geschichte her 40 Seiten.


Deine literarische Reportage hat nicht nur einen Titel, über den wir vielleicht gleich noch reden können, sie hat auch einen Untertitel und der lautet ‚Eine Bildungsreise durch das Oldenburger Land‘. Hat die Reise durchs Oldenburger Land dich klüger gemacht?

Also weiser würde ich jetzt nicht sagen, aber es ist natürlich so: Wenn man so viele Orte aufsucht, auch Orte, die ich noch nicht kannte, und Leute kennenlernt, die ich entweder gar nicht kannte oder nicht kannte – man lernt ja doch immer was dazu und das erweitert natürlich den Horizont. So oder so. Also insofern sehe ich das schon als eine Bildungsreise an. Ich weiß jetzt nicht, ob ich dadurch einen höheren Grad meiner Existenz erreicht habe. Ich habe mich natürlich auch gefragt, inwieweit man durch so eine Reise ein anderer Mensch wird. Also wenn man das als Roman, als Bildungsroman, erzählt, dann könnte man am Ende nicht mehr an den Ausgangspunkt der Reise zurückgehen. Und ich glaube, das trifft natürlich zu, weil ich nun diese ganzen Orte kenne. Ich sehe es eben nicht mehr mit diesem unschuldigen Blick, mit dem ich damals da reingegangen bin.

Hast du das jetzt schon gemerkt? Bei unserer Lesereise, wo du dieselben Stationen noch einmal besuchst, hat sich die Wahrnehmung, der Blick auf die Orte verändert?

Ja, automatisch, weil natürlich mehr blinde Flecken entstehen. Ich nehme manche Dinge als selbstverständlich wahr. Ich fand es aber auch nett, Leute wiederzusehen, die ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Also diese Vertrautheit, die dann plötzlich da war. Wir konnten sofort wieder an Dinge anknüpfen, die wir besprochen hatten, und dadurch, dass ich mich nochmal intensiv mit denen beschäftigt hatte, wusste ich ja eigentlich noch sehr viel über die, vielleicht mehr als sie über mich.


Gespräche zu führen, ist ja auch ein journalistischer Ansatz. Warst du im Oldenburger Land eher als Schriftsteller oder als Journalist unterwegs?

Tja, also meine Methode ist natürlich in dem Fall eine journalistische Herangehensweise, also durch Recherche und Interviews den Orten und Menschen näher zu kommen. Das Schreiben selber ist … es ist ja jetzt nichts erfunden. Aber dennoch ist es vielleicht im Sprachlichen eine literarische Herangehensweise. Ich bin aber auch kein Nature Writer. Ich kann mir Landschaften anschauen, aber sobald ich anfange, über sie zu schreiben, langweile ich mich bei dem, was ich dann schreibe, schon so sehr, dass ich denke, jetzt muss aber mal wieder jemand was sagen. Also ich brauche die Gesellschaft und die Menschen um mich, um überhaupt zu schreiben.

An manchen Stellen in diesem langen Manuskript, oder auch an manchen Orten, warst du aber doch versucht, in die Fiktion abzutauchen. Das spielt im Gespräch in Delmenhorst zum Beispiel eine Rolle, als du diese herrliche Fiktion über die Fortsetzung der Suche des verschwundenen Bronzereihers beschreibst. Ist es für dich einfacher, Geschichten zu erfinden als schreibend den Lebenserzählungen von Menschen zu folgen oder umgekehrt?

Nein, ich finde es total schwierig, Geschichten zu erfinden. Ich bewege mich da immer auf so ganz unsicherem Terrain, ich weiß immer nicht, ob das plausibel ist, was man schreibt. Deswegen recherchiere ich einfach wahnsinnig viel, um so eine Grundsicherheit zu gewinnen, und in Delmenhorst war es so – das ist vielleicht ein besonderer Umstand gewesen –, dort habe ich ein Interview geführt mit dem ehemaligen Kulturdezernenten, der auf der Suche nach einem verschwundenen Bronzereiher war, der ursprünglich mal vor dem Stadtbad Delphina gestanden hat. Und dann haben wir uns eben zum Interview getroffen und ich hatte immer so die Vision, ich fahre vielleicht nach Delmenhorst zurück und wir fahren beide mit dem Auto durch die Stadt und sprechen mit Leuten und fragen überall rum, wo denn dieser Reiher geblieben ist. Und dazu ist es nicht mehr gekommen und dazu wird es auch nie wieder kommen, weil ich dann beim weiteren Aufarbeiten meiner Rechercheunterlagen festgestellt habe, dass er im Juni gestorben ist. Und dann habe ich das aber als Fiktion entwickelt, indem ich mir vorgestellt habe, wie es denn gewesen wäre, idealerweise, wenn wir dort unterwegs gewesen wären.

Du bist also durch das Oldenburger Land gereist, um Geschichten zu sammeln. Dafür hast du viele Gespräche geführt und im Zentrum dieser Gespräche stehen aber immer die Lebenswege deiner Gesprächspartner – sind Geschichten für dich im Idealfall mit Biografien verbunden?

Ja, also ich gehe davon aus, dass ich mich den Orten nur über die Menschen annähern kann, die dort leben, weil ich das Gefühl habe, wenn ich jetzt alleine durch die Stadt laufe und mir die Fassaden der Häuser angucke oder die Leute einfach nur beobachte, ohne mit ihnen zu reden, ich komme denen dann nicht richtig nahe. Ich bekomme auch kein richtiges Gefühl für die Orte, alles bleibt irgendwie an der Oberfläche. Und deswegen war es mir wichtig, über Personen zu erzählen und unerlässlich natürlich über deren Biografien, über die Prägungen sozusagen, über das, was sie zu dem Menschen gemacht hat, der sie in dem Moment sind, in dem ich ihnen gegenübertrete.


Ich habe aber vorhin gesagt, dass wir noch über den Titel sprechen müssen: „Die Gangland-Chroniken“. Was hat es mit diesem Titel auf sich und was beinhaltet der vielleicht, was sich durch alle Kapitel zieht?

Ja, ich habe mir bei meiner Reise erstmal gar nicht so große Vorstellungen darüber gemacht, ob es überhaupt einen roten Faden gibt. Abgesehen natürlich vom Oldenburger Land, also von den Orten selbst, die eben historisch aufeinander bezogen sind. Aber dann sammelte sich immer mehr an und in Cloppenburg waren diese Fahrraddiebe, in Delmenhorst, meiner zweiten Station, war der verschwundene Reiher, und dann dachte ich schon: Also einerseits Schweine und Reiher, da hat man schon die Tiere, und andererseits sind es jetzt zwei Verbrechen, wer weiß, was jetzt noch auf meiner Reise kommt. Und dann habe ich natürlich schon so einen Blick entwickelt und habe bereits darauf gewartet, dass da vielleicht wieder sowas kommt, oder habe dann eben auch Fragen in die Richtung gestellt, da hat sich das irgendwie schon zusammengefügt. Und in Seefeld, meiner dritten Station, da gibt es natürlich unheimlich viele Kühe auf den Weiden und Pferde, aber die spielten irgendwie so gar keine Rolle, als ich dort unterwegs war und zufällig an einem Treckerkino teilgenommen habe und mit diesem Kreisjugenddiakon ins Gespräch kam. Da war es so, dass die Gespräche mit den Menschen eigentlich im Vordergrund standen. Deswegen ist das Kapitel auch mit Menschen überschrieben und da gibt es auch am wenigsten Verbrechen, was eigentlich nicht richtig sein kann, weil die Menschen ja die meisten Verbrechen begehen und die Tiere am wenigsten. Es war nicht unbedingt von Anfang an meine Idee, Landgang umzudrehen und [deutsch:] Gangland zu machen oder [englisch:] gangland oder so, sondern es war eher so, dass dieses Motiv durch die ersten beiden Orte, die ich besucht habe, gesetzt wurde.

Zuletzt geändert am 5. September 2023