2018/19 – Mirko Bonné

Reisejournal „In der Mitte der Weite“

Mirko Bonné war vierter Landgang-Stipendiat

2018 erhielt der Schriftsteller und Lyriker Mirko Bonné vom Literaturhaus Oldenburg auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium: ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land, das einen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont. Es wird seit 2015 jährlich an eine renommierte deutschsprachige Schriftstellerin oder einen renommierten deutschsprachigen Schriftsteller vergeben. 

Mirko Bonné wurde 1965 im oberbayerischen Tegernsee geboren und zog 1975 nach Hamburg, wo er seither lebt. Seit Beginn der neunziger Jahre ist er als Autor von Prosa und Lyrik sowie als Übersetzer tätig. Seit 2012 veröffentlicht er in seinem Blog Das Gras, den er als poetisches Tagebuch führt. 2014 und 2015 war Bonné Writer-in-Residence des Projekts Weather Stations und prüfte gemeinsam mit Autorinnen und Autoren aus Melbourne, London, Dublin und Warschau literarische Darstellungs- und Vermittlungsmöglichkeiten der Folgen des Klimawandels.

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der dritten Durchführung des „Literarischen Landgangs“ waren die Buchhandlung Prien in Wilhelmshaven, das Schlossmuseum Jever, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch in Kooperation mit dem Kulturzentrum Seefelder Mühle, die Städtische Galerie Delmenhorst, der Bahnhofsverein Westerstede und das Museumsdorf Cloppenburg.

Mirko Bonnés Erkundungstour und Reisejournal

Im September 2018 unternahm Mirko Bonné als vierter Landgang-Stipendiat eine Erkundungsreise durch das Oldenburger Land. Die für ihn geplante Erkundungstour begann in Cloppenburg, dann führte sie ihn nach Wilhelmshaven, Jever, Seefeld, Delmenhorst, Westerstede und Oldenburg. Unterwegs machte Mirko Bonné sich Notizen und hielt in Fotos fest, was sein Blick einfing. Einige der so entstandenen Bilder sowie erste Notate zur Reise veröffentlichte er schon 2018 in seinem Blog Das Gras
Weil Mirko Bonné die Woche der Erkundungstour für sein umfangreiches Interesse zu knapp bemessen war, reiste er im April 2019 ein weiteres Mal an und besuchte in Oldenburg nicht nur Prinzenpalais und Stadtmuseum, sondern ebenfalls die St. Lamberti-Kirche, die Synagoge und die Cäcilienbrücke. Dreimal kam er insgesamt zur Recherche ins Oldenburger Land, denn auch Orte wie Brake, Dangast, Blexen, Bethen und Jade wollte er noch in Augenschein nehmen. 
Die wiederholten Reisen waren obendrein durch eine persönliche Erinnerung motiviert: An einem Tag im Sommer 1977 ging Mirko Bonné als Junge mit seinem Bruder in der Hunte schwimmen. Erst sein dritter Besuch ließ ihn die alte Badestelle wiederfinden. Nicht in Oldenburg, sondern in Hundsmühlen. Ein Großonkel hatte dort gelebt.

Seine Beobachtungen während der Reisen im Oldenburger Land ließ der Schriftsteller in ein Journal einfließen, das poetische, historische und narrative Einträge verbindet und sieben Gedichte enthält. Es trägt den Titel In der Mitte der Weite. Die Ernsthaftigkeit der vertiefenden Recherche, die seinen Eindrücken folgte, wird darin ebenso deutlich wie sein großes Interesse an Architektur und Bildender Kunst. Denn nicht nur der gelbliche Qualm des Meppener Moorbrandes grundiert seinen Text. Als roter Faden ziehen sich auch die Kunstwerke Georg Schmidt-Westerstedes durch das Journal, die er an vielen Orten im öffentlichen Raum entdeckte. 

Mirko Bonnés Reisejournal In der Mitte der Weite wurde in der Anthologie Fünf Landgänge » veröffentlicht. 

Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg

Vom 20. bis zum 26. Mai 2019 trat Mirko Bonné die Reise ein weiteres Mal an, um das Reisejournal an den sieben Hauptstationen seiner Reise – Cloppenburg, Wilhelmshaven, Jever, Seefeld, Delmenhorst, Westerstede und Oldenburg – vorzustellen. Alle Lesungen wurden durch die Präsentation seiner Reisefotos ergänzt. Monika Eden, die Leiterin des Literaturhauses Oldenburg, begleitete ihn als Projektleiterin und Moderatorin. So erfuhren die Besucherinnen und Besucher in Lesung und im Gespräch, wie der Schriftsteller die Region, die sie selbst aus unmittelbarer Nähe kennen, erfuhr und literarisch verarbeitete.

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Mirko Bonné bei der Lesung in Oldenburg:

Mirko, wie dürfen wir uns den reisenden Schriftsteller Mirko Bonné vorstellen. Hast du bestimmte Rituale, bestimmte Zeiten am Tag, an denen du dir Dinge notierst? Schreibst du sie dir gleich ins Notebook oder wie hältst du das fest, was dir unterwegs begegnet?

Ich habe immer ein Notizbuch bei mir und das ist immer offen. Ich habe einen Stift dabei und bin in jeder Sekunde bereit, in meinem Notizbuch etwas aufzuschreiben. Ich kann mich erinnern, dass ich auf meiner Rundreise durch das Oldenburger Land oftmals im Gehen innegehalten habe, um mir bestimmte Dinge zu notieren oder auch Zeichnungen zu machen, um alles Mögliche in Stichworten oder auch in Versen oder in Sätzen aufzuschreiben. Ich habe auch viel gesammelt und das fließt dann natürlich auch in die Notizen ein. Ich finde heute noch Eintrittskarten oder Fundstücke, alles Mögliche, was ich während dieser Tour gesammelt habe.
Es fließen dann die Materialien ein, die ich von dir geschickt bekommen habe, zwei Kartons mit Infomaterialien aus den Gemeinden des Oldenburger Landes. Insofern hat sich dann etwas zusammengetan, nämlich Recherche und Anschauen. Das hat sich zusammengefügt zu einem weiteren Schritt in meinem Notizbuch – allerdings dann übertragen in eine Datei. Die wiederum habe ich weiter bearbeitet und in meinem Blog ausprobiert. 15 Landgänge habe ich dort mit Fotos versehen. Und aus diesen 15 Landgängen, aus diesen einzelnen Passagen, ist dann dieses Journal geworden.

Ein Journal, das auch Gedichte enthält. Es sind nicht nur sehr poetisch verdichtete Prosapassagen, sondern Du hast tatsächlich auch Gedichte geschrieben. Das hat mich am meisten erstaunt. Denn meine Vorstellung ist: Wenn ich weiß, ich bin jetzt sieben Tage lang unterwegs plus An- und Abreisetag, und ich nehme mir vor, ich werde auch Gedichte schreiben – meine Idee wäre, das kann gar nicht funktionieren. Ein Gedicht stellt sich doch eher ein, oder?

Das funktioniert, ehrlich gesagt, nur so, dass man sich bestimmte Vorgaben gibt, und ich habe mir gesagt: Ich will auf dieser Reise auf jeden Fall sieben Gedichte schreiben. Ich habe aber für mich offengelassen, über welche Orte oder welche Begebenheiten diese Gedichte entstehen sollen. Es sind tatsächlich sieben geworden. Ich habe sie allerdings nicht alle in dieser Woche geschrieben. Sie sind teilweise sehr viel später entstanden, auch in Momenten, in denen ich gar nicht damit gerechnet habe. Ich habe zum Beispiel ein Gedicht über Westerstede geschrieben, als ich wieder Rolf Dieter Brinkmann gelesen habe. Oder ich habe ein Gedicht über Nordenham geschrieben, nachdem ich eine Dokumentation über Nordenham im Internet gesehen habe. All solche Dinge fließen einfach ein, wenn man Gedichte schreibt. Das ist ja nicht so, dass man sich hinsetzt und die Inspiration sammelt und dann küsst einen die Muse.


Die Literarisierung, die Fiktion, hat Einzug in dein Reisejournal gehalten. Ist ein Reisejournal als literarisches Format dennoch autobiografischer als Prosa zum Beispiel? Wer ist der Erzähler, wen hören wir in dem Text sprechen?

Jeder literarische Text sollte meiner Ansicht nach sich selbst erzählen. Er sollte den Autor zum Instrument machen – nicht andersherum. Die Sprache ist ja älter als wir alle; wir werden alle in die Sprache hineingeboren, das vergisst man sehr oft. Die Sprache ist das Wasser, in dem wir leben. Wenn wir Fische wären, dann würden wir in der Sprache schwimmen. Aber davon mal ganz abgesehen: Dieses Reisejournal schneidet natürlich ganz viele Sachen weg, die zu banal sind, zu profan, oder die ich auch einfach übersehen habe – ganz viele Dinge natürlich, darauf wurde ich während dieser Lesereise auch immer wieder hingewiesen, dass ich sehr viele Dinge übersehen habe. Natürlich, klar, damit muss man leben. Aber auf der anderen Seite gibt es auch vieles, was ich dazuerfinde, und zwar ganz bewusst, weil ich Erzähler bin. Und jedes Erzählen ist natürlich fiktiv. Es nimmt nur die Realität, die sogenannte Realität, zum Anlass, um sie auszuformulieren, individuell zu gestalten und etwas auf menschliche Art und Weise erzählerisch schön weiterzugeben, zu vermitteln. Und das ist hier der Fall.
Ich meine, klar: Ich bin hier durchgefahren, ich habe vieles gesehen. Ich muss aber auch gestehen, ich habe ebenso einiges nicht gesehen, sondern mir angelesen, ähnlich wie diese verschwundene Burg Delmenhorst, die man ja nicht sehen kann. Aber es passieren wunderschöne Sachen: Eine Frau, eine Professorin, hat mir Monate später ein Foto von einem Gemälde geschickt, das sie von der verschwundenen Burg Delmenhorst entdeckt hat, um mir zu zeigen: So hat sie ausgesehen. Das ist, glaube ich, ein schönes Beispiel für diese wundersame Wirkung des Erzählerischen, wie dann Dinge zusammenfinden.


Es ist dir anscheinend sehr wichtig, deine Texte in historische Bezüge einzuordnen, auch in Bezug zu anderer Literatur zu setzen; das macht das Reisejournal als Text. Warum sind dir solche Bezüge in die Historie in deinem Schreiben so wichtig? 

Das hat mit meinem vermutlich sehr klassischen Bild von Literatur zu tun. Ich bin ein leidenschaftlicher Leser und auch ein leidenschaftlicher Beobachter. Meine Frau und ich gehen, egal wo wir uns aufhalten, in Museen. Wir waren gestern in Dangast noch im Franz Radziwill Haus, weil wir es vorher nicht gesehen haben. Mir ist es einfach wichtig… jedes Bild, jedes Fitzelchen von früher betrachte ich als eine Art Fenster in die Vergangenheit, weil es mich schlicht interessiert, wie die Menschen früher gelebt haben. Nicht im Hinblick auf eine museale Darstellbarkeit. Ich war mal in der antiken Ruinenstadt Ephesus in der Türkei und da hat mich dieses Gefühl wirklich von den Beinen gehoben, das Gefühl, dass man die Lebendigkeit der Vergangenheit spürt und dass die im Grunde genommen nicht wirklich tot ist. Wir sind mit Fantasie ausgerüstet und wir können uns Dinge vorstellen. Und das lässt uns die Möglichkeit, das Leben von früher weiterzuerzählen und unseren Kindern wieder zu erzählen und durch eine lebendige Überlieferung in Gang zu halten. Ich finde, das ist eine vornehme Aufgabe der Literatur. Zumindest, wenn man sie so sieht, wie ich sie sehe: In einem klassischen Sinn und mit Ernsthaftigkeit betrieben. Das setzt sich inzwischen in jedem meiner Texte fort.

Der Impuls, Vergangenes lebendig zu halten, lässt dich in diesem Reisejournal ziemlich oft in die Vergangenheit schauen. Denn meine Wahrnehmung ist, dass Verschwundenes – und zwar nicht nur im Hinblick auf Gegenstände, auch auf Kulturtechniken, auf Berufe – sich wie ein roter Faden durch diesen Text zieht. 

Es gibt vieles, das in diesem Journal benannt wird, weil es verschwunden ist oder dabei ist, zu verschwinden. Schmidt-Westerstedes Kunstwerke sind dafür ein gutes Beispiel. Viele Dinge sind einfach dem Verschwinden anheimgegeben, so wie fast alles im Grunde genommen. Wir leben, finde ich, in einer Welt, die den Nutzen voranstellt. Der Nutzen wird zum Mittelpunkt. Alles muss nutzbar sein, alles muss nützlich sein, alles muss sich rentieren und einsetzbar sein. Und es gibt eben Dinge, die das nicht sind, und ich finde, die sind sehr wichtig und geben uns einen Raum, in den wir einfach hineingehen können und uns einfach mal gehen lassen können, in dem wir die Fantasie spielen lassen können. Und in dem wir zu uns selber finden. Uns an unsere Kindheit erinnern und Bewegungen nachspüren können, die man in der Lebendigkeit, oder im Alltäglichen, nur noch sehr selten findet. Deswegen spüre ich dem Verschwundenen nach. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich versuche, Dinge aufzuhalten; das ist nicht meine Aufgabe. Aber das Verschwinden zu beschreiben und mit Worten festzuhalten, darin sehe ich eine Aufgabe der Poesie oder des poetischen Blicks.


Du erwähntest einen literarischen Diskurs, der sich durch das Projekt des „Literarischen Landgangs“ im und über das Oldenburger Land entwickelt. Wie hast du diesen wahrgenommen?

Es gibt eine andere Sache, die mir momentan noch näher ist als dieser literarische Diskurs. Das sind die Gespräche, die es vor Ort gegeben hat. Die sich entsponnen haben aufgrund meiner Lesungen und meiner Recherche. Das kann ich jetzt auch ohne Eitelkeit sagen, weil es Gespräche sind, die es sonst nicht gegeben hätte. Das waren in Delmenhorst welche mit bildenden Künstlern, gestern mit der Familie von Georg Schmidt-Westerstede, in Jever haben wir mit dem Pastor gesprochen und mit einem Lehrer über die Vergangenheit und die Gegenwart der Denkmalskunst in Jever. Das sind alles sehr schöne Gespräche, die zeigen, es gibt auch im Oldenburger Land einen kulturellen Diskurs, der allerdings anders als in Berlin oder Hamburg nicht an der Oberfläche stattfindet, sondern eher passenderweise, bei passender Gelegenheit, ohne sich groß in den Vordergrund zu spielen. Und das empfinde ich als sehr angenehm, aber auch als sehr stark.

Du bist jetzt noch einmal an fast allen Stationen gewesen, die du im September bereist hast. Die Orte, die du bei deinem Besuch im April aufgesucht hast, waren andere, für die dir vorher die Zeit fehlte. Aber die Orte, die du jetzt noch einmal besucht hast, kanntest du alle schon. Hat sich dein Blick auf das Oldenburger Land verändert?

Ja, natürlich! Sehr sogar. Ich kenne mich hier inzwischen sogar ein bisschen aus, würde ich sagen. Ich will jetzt zwar nicht sagen – natürlich, das geht ja gar nicht –, dass ich nun ein tieferes Verständnis für bestimmte Zusammenhänge habe oder dass ich irgendetwas Wesenhaftes verstehen würde. Aber es ist schon schön zu sehen, dass man, wenn man über eine Brücke fährt, weiß, welcher Fluss das ist. Oder wohin dieser Fluss fließt. Und was das bedeutet. Wie die Leute sich auch dazu verhalten. Also wie die Leute vielleicht über ein bestimmtes Gebäude reden oder über diese Brücke oder diesen Maler. Wie sie miteinander sprechen, wie es auch lokale Akzente gibt. Dialektunterschiede. Akzentunterschiede. Das finde ich sehr schön, muss ich sagen. Ich verbinde mit dem Oldenburger Land momentan mehr als mit meiner Heimatregion… nein, das ist schön!

Zuletzt geändert am 5. September 2023