2017/18 – Michael Kumpfmüller
Die Erzählung „Der gute Gott von Oldenburg“
Michael Kumpfmüller war dritter Landgang-Stipendiat
Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller erhielt 2017 vom Literaturhaus Oldenburg auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium: ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land, das einen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont. Es wird seit 2015 jährlich an eine renommierte deutschsprachige Schriftstellerin oder einen renommierten deutschsprachigen Schriftsteller vergeben.
Michael Kumpfmüller wurde 1961 in München geboren. Nach dem Studium der Germanistik und Geschichte in Tübingen, Wien und Berlin, das er mit der Promotion abschloss, arbeitete er als freier Journalist für diverse Tages- und Wochenzeitungen. Seit 1999 ist er freier Schriftsteller. Seine Romane wurden vielfach übersetzt und ausgezeichnet. Bevor er Landgang-Stipendiat wurde, erschien 2016 zuletzt sein viel beachteter Roman Die Erziehung des Mannes.
Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der dritten Durchführung waren die Buchhandlung Terwelp in Cloppenburg, das Industrie Museum Lohne, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch, die Städtische Galerie Delmenhorst, das Schlossmuseum Jever in Kooperation mit den Horumersieler Literaturtagen und der Bahnhofsverein Westerstede.
Michael Kumpfmüllers Erkundungstour und Erzählung
Im September 2017 unternahm Michael Kumpfmüller als Landgang-Stipendiat eine Erkundungsreise, die in sieben Landkreisen und kreisfreien Städten des ehemaligen Landes Oldenburg Station machte. Um sich möglichst unabhängig bewegen zu können, führte er die Reise mit dem eigenen PKW durch. Die Stationen der Landgang-Tour waren Cloppenburg, Lohne, Delmenhorst, Jever, Nordenham, Westerstede und Oldenburg. Neben den durch die Partner des Literaturhauses markierten Stationen besuchte er aber auch Dinklage, Norden, Burhave, Neuharlingersiel, Bad Zwischenahn und Wilhelmshaven.
Schon während der Erkundungstour stand für ihn fest, dass er seine Beobachtungen in einen literarischen, fiktiven Text einfließen lassen würde. Die Erzählung, die Michael Kumpfmüller geschrieben hat, trägt den Titel Der gute Gott von Oldenburg. Er schickt darin ein Paar nach Norddeutschland und ins Oldenburger Land:
Rieke, seine Protagonistin, ist gebürtige Oldenburgerin. Sie hat eine schwere Entscheidung zu treffen und hofft, durch die Bewegung des Reisens ihre Gedanken und Emotionen ordnen zu können und am Ende der Reisewoche klarer zu sehen. Der Erzähler des Textes begleitet sie, folgt der von ihr gewählten Route und gewährt ihr Sicherheit in der ungewissen Situation, in die sie schicksalhaft geraten ist.
Michael Kumpfmüllers Erzählung Der gute Gott von Oldenburg wurde in der Anthologie Fünf Landgänge » veröffentlicht.
Michael Kumpfmüllers Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg
Vom 28. Mai bis zum 3. Juni 2018 trat Michael Kumpfmüller die Reise durch das Oldenburger Land, auf die er auch seine literarischen Figuren schickt, ein weiteres Mal an, um die Erzählung auf den sieben Stationen seiner Erkundungstour vorzustellen. Monika Eden, die Leiterin des Literaturhauses Oldenburg, begleitete ihn als Projektleiterin und Moderatorin und sprach mit ihm über seine Reise und seine Erzählung. Die Besucherinnen und Besucher der Lesungen erfuhren, welche Entscheidung Rieke zu treffen hat und ob sie im Oldenburger Land zu einer Lösung findet. Dabei wurden sie mit der Erzählung an Schauplätze geführt, die sie aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft kennen.
Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Michael Kumpfmüller bei der Lesung in Oldenburg:
Die Stationen der Lesereise waren auch die Stationen der Erkundungstour. Eine große Hürde musstest du, Michael, allerdings schon vor dem Beginn dieser Erkundungsreise meistern. Wir hatten dir – wie auch schon den beiden Vorgängern – im Vorfeld Informationen geschickt, die nicht ich zusammengetragen habe; die Verantwortung für die einzelnen Stationen liegt bei den Projektpartnern. Mal Hand aufs Herz: Hast du das tatsächlich alles gesichtet oder gar durchgearbeitet? Oder wie spontan hast du jeweils entschieden, was du auf einer Station der Reise unternehmen würdest?
Das ist ein Dilemma. Weil das ist ja, wenn man so ein Zwangscharakter ist wie ich, so eine Art Befehl: Wesermarsch, 17 Stationen, davon musst du 12 machen. Das wollte ich aber natürlich nicht. Also habe ich, ehrlich gesagt, erstmal überhaupt nicht reingeguckt, sondern alles in ein Klappkistchen, mit dem ich normalerweise einkaufe, ins Auto geworfen und habe dann, wenn meine Seele ausreichend kraftvoll war, am Morgen mal reingeguckt.
Was ich sagen muss und will – auch in dem Text ist das übrigens immer noch… neben der Google-Suchmaschine, dem Navigationsgerät und dem tatsächlichen Navi… das Paar, von dem ich erzähle, orientiert sich immer an der Landkarte. Und ehrlich gesagt, ist die Landkarte schon das Wichtigste. Denn ich hatte am Ende nicht die Idee, das abzuarbeiten, was es da an Orten gibt, weil das ja nicht geht, sondern ich habe mir überlegt: Was will ich eigentlich hier? Denn auf Anhieb will ich gar nichts hier – und ich will auf keiner Reise irgendwo was. Ich habe mir vielmehr überlegt, was ist denn da mutmaßlich der Fall? Und dann ist klar, da ist Meer, da sind Wiesen und da sind Flüsse und auch Städte. Und dann habe ich gedacht, naja, ich suche mir da immer einen Fokus.
Ich meine, es gibt verschiedene schwierige Aufgaben bei Reisen, die an und für sich natürlich lächerlich sind. Man muss sich selbst ertragen auf Reisen. Man muss permanent wissen, dass man das Falsche anschaut und das Tolle versäumt. Jedenfalls denkt man das immer. Und man muss sich dieser absoluten Willkür und dem Zufall aussetzen. Das ist aber auch charmant. Vorgestern war ich in Wilhelmshaven. Oder vielmehr: Ich wollte nach Wilhelmshaven. Ich war auch in Wilhelmshaven, aber irgendwie gab es keinen Parkplatz. Und dann fuhr ich da ein bisschen am Rand der Stadt herum und auf einmal hieß es, es gäbe dort einen See. Da war es noch heiß. Also dachte ich, du fährst jetzt einfach an den See. Ist ja auch Oldenburger Land!
Als du mir diese Erzählung geschickt hast, hast du mir geschrieben, du habest die Reise eigentlich dreimal unternommen. Einmal live, vor Ort, also im September, dann noch einmal, im Erinnern und Nachsinnen und dann ein drittes Mal mit dem Schreiben der Erzählung. Jetzt bei der Lesereise hast du sie sogar zum vierten Mal unternehmen können. Was mich aber interessiert ist dieses dritte Mal. Lässt sich überhaupt rekonstruieren und kannst du in Worte fassen, wie aus einer tatsächlich unternommenen Reise diese Erzählung geworden ist? Zum Beispiel wie du zu Rieke, deiner Protagonistin, gefunden hast?
Als ich gestartet bin, war ich erfreut, weil ich den Landgang als ein tolles Projekt ansehe, und es auch eines ist, das zu mir passt. Und ich dachte: Na gut, ich mache das wie Politycki und Poschmann, deren Texte ich nicht kannte. Irgendwas wir mir schon einfallen. Aber auf dem Weg nach Westerstede stand ich vor dem Abgrund. Ich habe gemerkt: Ne, ich will das nicht, ich will nicht sagen „Ich fuhr dann nach Westerstede“. Also… ich war völlig blank. Und das war sehr unangenehm. Ich war wirklich unglücklich, sagen wir mal, um das Wort „Verzweiflung“ zu vermeiden. Aber ich bin inzwischen auch nicht mehr ganz jung und ich weiß, dass das meistens etwas vorbereitet. Dass es sinnvoll ist, so partiell verzweifelt zu sein. Und tatsächlich, ich glaube auf dem Weg noch, wusste ich auf einmal: Ja ... ah ja … ich muss eine Erzählung schreiben. Ich werde eine Erzählung schreiben, ja.
Und da kamen mir nun zwei Zufälle zu Hilfe. Der eine war, dass ich tatsächlich eine enge alte Freundin habe, die gerade vor dieser Entscheidung Riekes stand, was mich sehr beschäftigt hat, weil sie nicht nur zu bewundern mutig ist, sondern auch fordernd. Sie wollte von mir wissen, wie findest du das und so weiter. Und letztlich redet man dann über den Tod. Und das konnte ich auch ganz gut. Aber das beschäftigte mich trotzdem.
Entscheidend war dann meine Ausfahrt mit der Gorch Fock – oder nicht entscheidend, ein weiterer Partikel war es. Da saß nämlich eine Frau mit an Bord, die mich total fasziniert hat. Sie war vielleicht 40, alleine. Ganz alleine. Auf eine Weise alleine, wie man das selten sieht. Hatte einen Pferdeschwanz; das ist für mich schon der Inbegriff des Nordens … naja, man ist nicht frei von Klischees, die sind ja auch immer teilweise wahr. Sie saß vorne am Bug. Und ich sah immer auf sie und ich fragte mich: Was macht sie hier? Denn sie schien mir … – ich weiß es ja nicht, ich habe sie auch nicht gefragt – aber sie schien mir keine Touristin zu sein. Und das ist wirklich faszinierend an kreativen Prozessen, dass wir auf einmal irgendwas neu zusammenbauen. Man muss es ja nicht gleich Erleuchtung nennen. Aber eine Idee haben. Also, ich kam dann in Westerstede an und fiel ins Bett und war mausemüde. Ich schlief. Und dann wusste ich: Die Reise ist eigentlich zu Ende. Aber das war super. Ich war dann noch im Park der Gärten, aber da war ich sozusagen schon in der kontemplativen Phase und eigentlich schrieb ich schon an der Erzählung. So war das. Also man könnte sagen: ist das jetzt ein reiner Zufall oder eine geniale Fügung? – ich weiß es nicht.
Es ist nicht nur Rieke, die im Text eine Entscheidung treffen muss, sondern es wird betont, dass sie auf einem Rest Freiheit beharren will, soweit das überhaupt möglich ist. Es wird deutlich, dass auch ihr Begleiter eine Entscheidung treffen kann oder muss, weil Rieke ihm sagt, dass sie ihn freigibt, wenn er angesichts der Krankheit nicht bei ihr bleiben wolle. Da lautet die Option nur ja oder nein.
Es ist eine Liebesgeschichte und es geht darum, dass man – also Rieke findet das – in der Extremsituation den Vertrag, den jedes Paar in der ersten Sekunde schließt, erneuern muss. Ich halte das einfach für Klugheit; dass Rieke so klug ist, zu begreifen, dass sie das Bleiben nicht einfach verlangen kann.
Denn die Wahrheit ist: Egal, was für Verträge wir haben, das sieht man dann ja bei der Trennung, sie gelten im Zweifelsfall überhaupt nichts. Also: Man muss sich vielleicht dessen immer wieder versichern. Und das ist sehr mutig und gleichzeitig klug und auch richtig.
Und er sagt darauf einfach nur: Ja. Ich bin weiterhin zu dem bereit, wozu ich immer bereit war. Und das finde ich ganz schön, wie gesagt, es soll ja eine Liebesgeschichte sein.
Die Liebesgeschichte endet mit der Feststellung, dass das Schwierigste bei einer Reise eigentlich immer das Nachhausekommen sei. Damit schließt du den Bogen zum Beginn; du hast deiner Erzählung ein Zitat von Tomas Espedal vorangestellt, das inhaltlich ziemlich genau das auf den Punkt bringt. Es spielt aber noch ein weiteres Zitat, oder eher ein literarischer Bezug, eine Rolle. Dieser Bezug ist sogar noch weiter nach vorne gesetzt: in den Titel. In der Erzählung spielen ja die Götter, oder das Göttliche, eine große Rolle. Und nun heißt diese Geschichte „Der gute Gott von Oldenburg“. Was hat es mit diesem Titel auf sich?
Es gibt ein Hörspiel von Ingeborg Bachmann und in diesem Hörspiel geht es darum, dass ein Liebespaar in New York, Manhattan, für mehrere Tage oder Wochen in einem Hotel lebt und immer weiter nach oben klettert. Verbunden mit diesem Liebespaar ist von Seiten von Frau Bachmann eine hoheliedartige Beschwörung dessen, was Liebe ist. Sowas habe ich selten gelesen. Sowas geht immer auch ein bisschen … fast an die Kante des Peinlichen. Aber es ist nicht peinlich, also jedenfalls mir nicht, ich bin ja Romantiker. Aber die Idee dieses Textes ist, dass die Liebe ein Skandal ist. Dass es okay ist, wenn Leute heiraten und Kinder kriegen und ins Büro gehen, das gefährdet die gesellschaftliche Ordnung nicht – so der Text. Aber wenn ein wahrhaft liebendes Paar sich um nichts kümmert – also ich würde jetzt sagen, narzissmuskritisch, nur um sich selbst kreist und gar nicht weiß, dass es eine Welt gibt –, dann heben die die Welt aus den Angeln. Und deswegen tritt der gute Gott von Manhattan auf – der in Wahrheit ein böser Gott ist – und bringt die Liebenden um. Und dem wird im Hörspiel aber wiederum der Prozess gemacht. Das ist ungefähr das Hörspiel.
Ich hatte den Titel am Anfang nicht. Ich hatte erst die Erzählung und keinen Titel. Und dann kam mir das Hörspiel. Dann dachte ich: Na lies es lieber nochmal, da stimmt doch irgendwas nicht. Aber genau, dass es nicht stimmt, hat mir gefallen, denn in meiner Wahrnehmung ist das eine sehr optimistische Erzählung und wenn ich hier den guten Gott von Oldenburg für den von Manhatten einsetze, ist das gewissermaßen die Warnung. Das hat mir irgendwie gefallen. Ja, die Götter spielen eine launige Rolle.
Wissen Sie, mit meiner Spiritualität … weiter bin ich noch nicht gekommen. Das ist sozusagen der Stand meiner Spiritualität.
Du bist jetzt der dritte Schriftsteller, der diese Reise unternimmt. Was macht diese Reise eigentlich attraktiv, wie lockt man Autoren wie dich in das Oldenburger Land?
Das hängt erstmal davon ab, ob jemand gerne aus seiner Höhle rausgeht. Mal angenommen, er tut das, dann gibt es für mich zwischen Sibirien und dem Oldenburger Land keinen Unterschied. Beides waren Räume, die mir unbekannt sind. Und ich bin nun aufgefordert, sie zu betreten und dort zu sehen, unter allen möglichen Gesetzen; den Gesetzen der Veranstalter, der Reise, der Infrastruktur und dann nach meinen eigenen Gesetzen. Und das Ergebnis meiner Reisen ist immer dasselbe. Nämlich, dass ich es überall in dem Sinne schön finde, dass ich überall erkenne, dass dort Menschen sind – und da spielen jetzt die Menschen eine Rolle, nicht die Landschaft; die Landschaft kann nämlich im Zweifelsfall nicht schön sein –, die sich bemühen zu leben. Dann reise ich also in diese Räume und stelle fest: Hey, da sind – obwohl ich die gar nicht kennenlerne – lauter Brüder und Schwestern. Das finde ich großartig. Ich glaube, das ist das, was ich mache und glücklich bin ich dann immer in den bedeutungslosesten Momenten. Mich könnte man eigentlich überall hinschicken. Und jetzt trage ich diese Oldenburger Landschaft und die Leute, mit denen ich zum Großteil gar nicht gesprochen habe, ein Leben lang mit mir herum. Und zwar mit den freundlichsten Gefühlen. Und das ist doch großartig – also das ist mein Gewinn!
Zuletzt geändert am 5. September 2023