2015/16 – Matthias Politycki

Reisebericht „Wo ist überhaupt noch Provinz? Das Oldenburger Land, von Osaka aus betrachtet“

Matthias Politycki war erster Landgang-Stipendiat

Als erster Schriftsteller erhielt Matthias Politycki 2015 vom Literaturhaus Oldenburg auf der Grundlage einer Förderung durch die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg das Landgang-Stipendium, ein Reisestipendium durch das Oldenburger Land. 

Der 1955 in Karlsruhe geborene Matthias Politycki lebt und arbeitet seit 1990 als freier Schriftsteller in Hamburg und München. Er veröffentlicht Romane, Erzählungen, Gedichte, Essays und Hörbücher und erhielt bereits zahlreiche Literaturpreise und Stipendien. Bevor er Landgang-Stipendiat war, war er zuletzt Writer-in-Residence an der Osaka City University in Japan (2014).

Mit dem Projekt „Literarischer Landgang“ gehen die Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg und das Literaturhaus Oldenburg als Partner einen neuen Weg in der Literaturförderung, der einen deutlichen Akzent in der bundesweiten Literaturförderung setzt und zugleich Regionalität betont.

Die regionalen Partner des Literaturhauses bei der ersten Durchführung waren das Museumsdorf Cloppenburg, das Industrie Museum Lohne, die Städtische Galerie Delmenhorst, der Verein LiteraturPlus Wesermarsch, die Horumersieler Literaturtage und der Bahnhofsverein Westerstede.

Matthias Polityckis Erkundungsreise und Reisebericht

Im Oktober 2015 unternahm Matthias Politycki als Landgang-Stipendiat zunächst eine Erkundungsreise durch das Oldenburger Land, die von Oldenburg nach Cloppenburg, Lohne, Delmenhorst, Nordenham, Horumersiel und Westerstede führte. Er bezog Quartier in den Städten und bewegte sich weit in ihr Umland hinein. 

Matthias Politycki unterwegs im Oldenburger Land. Ein Film von Alexandra Bidian, Insa Rauscher und Julius Zemaitis / Hochschule Hannover

Direkt nach seiner herbstlichen Erkundungstour verfasste er während eines anschließenden Japan-Aufenthaltes den Reisebericht Wo ist überhaupt noch Provinz? Das Oldenburger Land, von Osaka aus betrachtet. Aus der japanischen Mega-City schaut er zurück auf die zuvor von ihm bereiste Region, die im direkten Vergleich auf den ersten Eindruck provinziell erscheinen mag. Sein unvoreingenommener Blick auf die Städte, die Landschaften und die Einrichtungen des Oldenburger Landes offenbart jedoch schnell, dass solche Etikettierungen allzu plakativ blieben. So findet Politycki provinziell anmutendes auch in der japanischen Großstadt und einige Hotspots der Globalisierung im Oldenburger Land. Matthias Politycki handelt in seinem Reisebericht die Stationen seiner Reise nicht etwa chronologisch ab. Vielmehr befragt er Beobachtungen, die er auf den einzelnen Stationen machte, danach, was das Typische an ihnen ist, und stellt dies in einen Vergleich, bei dem Osaka den Bezugspunkt bildet. 

Matthias Polityckis Landgang-Text wurde in der Anthologie Fünf Landgänge » veröffentlicht.

Matthias Polityckis Lesereise der Kulturstiftung der Öffentlichen Versicherungen Oldenburg

Seinen Reisebericht stellte er vom 30. Mai bis zum 5. Juni 2016 bei öffentlichen Literaturveranstaltungen vor. Die Lesetour führte ihn erneut zu den sieben Stationen, die er im Oktober des Vorjahres als Stipendiat bereist hatte. Monika Eden, die Leiterin des Literaturhauses, begleitete ihn als Moderatorin und sprach mit ihm über seine Reise und seinen Text. Am 5. Juni fand als Abschluss und Höhepunkt der ersten Durchführung des Projekts „Literarischer Landgang“ die Lesung des Schriftstellers im Oldenburger Musik- und Literaturhaus Wilhelm13 statt.

Ausschnitte aus dem Gespräch zwischen Monika Eden und Matthias Politycki bei der Lesung in Oldenburg:

Der Anspruch dieses Literaturprojekts, des „Literarischen Landgangs“, ist sehr ambitioniert gesetzt: Es soll das Oldenburger Land in eine Literaturregion verwandeln. Durch Lesungen an vielen Orten und indem es das Oldenburger Land in die Literatur holt. Aber wie schafft man es, richtig gute Schriftsteller dazu zu bewegen, zu uns zu kommen, sich für eine Weile bei uns aufzuhalten und dann auch noch darüber zu schreiben? Man bietet ihnen ein Stipendium an, ein Reisestipendium.
Matthias, gestern fragte in Westerstede eine Besucherin, warum wir das Oldenburger Land überhaupt unbedingt als Region in die Literatur bringen möchten. Was meinst du, gibt es gute Gründe dafür?

Ja, wir müssen es sogar, wenn wir nicht von der Landkarte verschwinden wollen. Mir ist aufgefallen, dass es schon vor einigen Jahren angefangen hat, dass ich im Ausland bei Lesungen oder Podiumsdiskussionen fast immer automatisch als Berliner Schriftsteller anmoderiert werde. Und das stimmt nun wirklich nicht. Da lege ich ausdrücklich Wert drauf: Man kann mich als Münchener Schriftsteller oder als Hamburger ansprechen, aber nicht, bitte, als Berliner. Ich finde, diesem Sog der Globalisierung, die sich auf gewisse Highlights der Welt konzentriert, muss man das altmodische Kosmopolitische entgegenhalten; also die Vielfalt der Regionen.
Und das beginnt schon innerhalb Deutschlands. Es gibt nicht nur Hamburg und München und vielleicht auch noch Berlin, sondern daneben auch wunderbare Regionen. Und, ich gebe es zu, auch ich kenne die zum Teil nicht. Deshalb habe ich dem Stipendium so gerne zugesagt. Denn natürlich führen mich andere Einladungen plötzlich in ganz entlegene Weltteile, wo man sofort und schnell sagt: „Wow!“ und „Ist ja schön bunt bestimmt, da muss ich sofort zusagen“. Und über das Oldenburger Land, wenn man in Hamburg sitzt, denkt man sich: „Was ist denn da?“ Und gerade das ist der Anreiz, finde ich, um festzustellen, dass hinter dem scheinbar so Nahem und Vertrautem schon wieder was anderes ist.


Als ich dich in die Pflicht genommen habe, zum Stipendium einen Text zu schreiben, habe ich es dir überlassen, ob es ein fiktionaler Prosatext, ein Gedichtzyklus vielleicht oder ein Reiseessay werden würde. Warum hast du dich für dieses Format entschieden?

Zum einen: Man kann beim literarischen Schreiben den Anfang nicht entscheiden. Gedichte, Romane, Erzählungen wuchten sich einfach an einen heran. Immer im falschen Moment. Dann ist man in der Pflicht und im Nachhinein natürlich glücklich, dass es so passiert ist. Aber man kann es nicht planen und auch nicht versprechen. Und das war ja die einzige Bedingung dieses Stipendiums: Ich muss einen Text liefern. Da war es mir zu riskant, auf Gedichte zu hoffen, die kommen eigentlich erst, wenn man irgendwo müde, verzweifelt, einsam zur Ruhe kommt; niemand da ist, mit dem man reden kann. Dann sind Gedichte der Versuch oder die Hoffnung, zu einem zukünftigen Leser zu sprechen und diese Einsamkeit anzugehen. Aber bei einer Woche im Oldenburger Land, bei dieser schnellen Taktung, die ihr vorgegeben habt, mit all dem, was ich dann zusätzlich in 10,8 Kilogramm Infomaterial, plus ‚Merian Oldenburger Land‘, plus Internet, dabeihatte – das war von vorneherein nicht zu bewältigen. Also schieden andere Textsorten aus.
Zum Zweiten fand ich es reizvoll, die Sache analytisch anzugehen. Gerade weil meine Kumpel gesagt hatten „Was willste denn da?“ Das finde ich das Spannende! Dann erst recht zu entdecken, dass es hier genauso spannend ist wie in Indien, dass man hier genauso viele Notizen machen kann. Das Oldenburger Land ist natürlich auf den ersten Blick nicht so farbenfroh; die Tapeten sind ähnlich wie da, wo ich wohne. Aber: Das fand ich reizvoll. Zudem glaube ich, das Landgang-Projekt braucht so einen analytischen Blick, um klarzumachen, dass das hier etwas Grundsätzliches und nicht nur eines von vielen Projekten ist. Damit das Projekt die Gegend mal anders auf den Begriff bringt, zumindest außerhalb des Oldenburger Landes. Das erschien mir der reizvollere Weg.


Es scheint, als hätte dich während deiner Reise eher weniger interessiert, womit das Stadtmarketing der verschiedenen Orte für Touristen wirbt. Wie hast du dich auf die Reise vorbereitet, was hattest du dir stattdessen vorgenommen?

Das unterscheidet, glaube ich, den Urlaub von der Reise. Also ich bin die Erkundungstour so angegangen wie, sagen wir mal, eine Reise durch Indien – bewusst! Okay, hier habe ich einen Mietwagen, den würde ich in Indien nicht wählen, ganz gewiss nicht. Aber ansonsten ist Reisen ja: aus der Komfortzone ausbrechen, sich durchaus auch mal fordern, an Grenzen rangehen.
Das geht auch übers Laufen. Ich hatte in Horumersiel einen Lauf. Ich habe ihn extra vor der Lesetour noch mal nachgeklickt; wir Läufer haben ja immer GPS-Uhren dabei, mit denen ich genau sehe, wo ich gelaufen bin. Übrigens auch in Oldenburg, den habe ich mir heute früh noch mal angeguckt. Das ist schön, das sind schöne Erinnerungen! In Horumersiel waren es 33 Kilometer und da war immer Gegenwind, eben auch beim Rückweg. Das sind Sachen, die vom Urlaubmachen weggehen. Ich habe einfach versucht: maßlos so viel wie möglich. Und ich wusste, danach kann ich mich ein bisschen ausschlafen. Das war die einzige Vorbereitung. 
Und dann habe ich natürlich in das Infomaterial geguckt: Napoleons Schafstall! Solche etwas skurrileren Ziele interessieren mich mehr als jede Kirche. Von denen habe ich mir ein paar angeguckt und die, die ich eigentlich nicht angucken wollte, nämlich die in Bad Zwischenahn, fand ich am atemberaubendsten. Wirklich sensationell, ich glaube, auch kunsthistorisch. Die kann wirklich mit jeder bunt ausgemalten Barock-Kirche in Oberbayern mithalten. Wir haben ja alle das Klischee, da unten sind diese pittoresken kleinen Kapellen. Oberbayern – das ist es. Aber nein! In Bad Zwischenahn war es mindestens so geborgen. Und da spürte man den Glauben, indem man nur die Ausmalung ansah. Also auch ergreifende Momente, die nicht geplant waren, sind entscheidend bei einer Reise. 
Aber ein bisschen ans Limit gehen und sich quälen, das war eigentlich das einzige Geplante, und fahren, fahren, fahren gehört auch dazu. Mehr muss man nicht tun. Die Hauptsehenswürdigkeiten, versteht sich von selbst, will man auch mitnehmen, allein um nachher sagen zu können, dass sie nicht so wichtig sind. Ich habe im Vorfeld das Oldenburger Land in dem – ja wie nennen wir das überhaupt, ein Reiseführer ist es nicht, aber sowas ähnliches – „A thousand places to see, before you die“ gesucht. Erstens: sehr Amerika-lastig. Zweitens: Das Oldenburger Land kommt mit keinem einzigen Eintrag vor. Und drittens: Osaka auch nicht. Und das finde ich eben das Spannende: hinter den schieren Sehenswürdigkeiten in eine Stadtlandschaft hineinreisen. Da, finde ich, beginnt Reisen. Abklappern von Eifeltürmen und Pyramiden, dann davor ein Selfie „ich war auch da!“ – das ist Urlaub. Aber hinter dieser Pyramiden-Tapete, die ja weltweit inzwischen durch unsere Medien vermittelt wird, wird es immer erst spannend. So habe ich es mir vorgenommen; also diese Offenheit, das Staunenwollen, ist entscheidend. Selbst in der Nähe der eigenen Heimatstadt noch staunen wollen, das wollte ich, das hatte ich mir vorgenommen.


Reisen hat für dich viel mit Einsamkeit zu tun. Bist du dennoch Menschen begegnet und hast du unterwegs Gespräche geführt, die deinen Blick auf die Städte und Landschaften verändert haben?

Man hat ja ab und zu mal Glück mit den Gesprächspartnern, das gehört auch zu so einer Reise. Am Anfang bin ich nur überall dran vorbeigefahren und habe gesagt „Man, das ist ja überall grün und herrlich!“ Ich hatte zwar den Verdacht „Wo sind die Stolpersteine?“, aber ich wäre nicht ohne die Gespräche drauf gekommen. Das gehört zum Reisen dazu, dass man ab und zu mal jemanden trifft. Ich habe jetzt auf der Reise wieder weiteres erfahren. Vorgestern in Horumersiel haben wir darüber geredet, dass die Wiesen, die ich so wunderbar fand, in Wirklichkeit Grasfelder sind. Da wird keine Kuh mehr draufgestellt, sondern die wird effizienter sechsmal im Jahr gemäht und sechsmal gegüllt und die Kühe stehen im Stall. Irre! Das muss natürlich für die Endfassung meines Artikels dann noch mindestens in die Fußnote. Die Geschichte geht also weiter. Das geht mir bei all meinen Texten so. Ich schreibe ständig um, auch in den gedruckten Büchern – zum Entsetzen meines Verlegers. Aber da kenne ich auch nichts, weil es ja spannend ist, wenn diese neuen Erkenntnisse dazu kommen. Und das habe ich eben auch erfahren: Sowas kann man nicht im Durchreisen selbst erkennen, da braucht man dann schon jemanden, der sagt: „Hey …“. 


Was war deine erfreulichste Begegnung während deiner Zeit im Oldenburger Land?

Das war zum einen die Begegnung mit einem Nebenerwerbslandwirt, der mir eine Kiste Äpfel geschenkt hat. Bis zu dem Zeitpunkt bekam ich eher auf sehr barsche Art und Weise Auskünfte – für meine Ohren barsch! Wie gesagt, ich bin ja immer noch in meinem Genpool eher was anderes gewöhnt, wenn man den Weg erfragt. Da hatte ich erstmal ein paar ziemliche Zurechtweisungen auf der Tour. Und dann war da so ein zwar auch knorriger, aber sehr herzlicher Landwirt. Da ist mir das Herz aufgegangen. Das finde ich immer wieder toll im Norden, wenn sich diese scheinbare Knorrigkeit in eine sehr nachhaltige Wärme wandelt. Und der Landwirt kam jetzt sogar zu der Lesung in Lohne, hat sich richtig interessiert und war ein kluger Mann. Also das war vielleicht eines der Highlights. Und das andere war natürlich der Lauf durch Oldenburg mit dem „Team Laufrausch“. 

Zuletzt geändert am 29. Januar 2024