Titelthema
Gründen mit 45+
Wer ein Unternehmen gründet, ist jung und kommt frisch von der Hochschule? Stimmt nicht! Ein Drittel aller Gründerinnen und Gründer gehört zur Generation X, den 45- bis 58-Jährigen.
Bei der Wahl ihres Vorbilds greift Katarzyna Kamrowski ins oberste Regal: „Angela Merkel“, sagt sie. „Bundeskanzlerin ist sie mit 51 Jahren geworden, also kann ich doch auch mit 46 meine eigene Firma gründen.“ Gesagt, getan. Seit Mai 2023 ist die gebürtige Polin, die längst in Oldenburg heimisch geworden ist, Unternehmerin. Ihre Firma heißt Kamsteel. Sie ist auf den Verkauf langlebiger, innovativer und nachhaltig produzierter Outdoor-Möbel spezialisiert. Der Clou dabei: Durch Gravuren lassen sich Sitzbänke und andere Stücke personalisieren oder mit einem Unternehmenslogo oder -slogan versehen.
Gründen mit 46? Normal! Laut Deutschem Start-up Monitor war 2023 knapp ein Drittel aller Gründerinnen und Gründer hierzulande 40 und älter (32,7 Prozent). „Nein, Gründen ist keineswegs eine Frage des Alters“, bestätigt Ralph Wilken, Leiter der Wirtschaftsförderung der Stadt Oldenburg. Und er nennt prominente Ü40-Beispiele: Gordon Bowker legte mit 51 den Grundstein für das Starbucks-Imperium, Ferdinand Porsche richtete sein Konstruktionsbüro in Stuttgart mit 55 Jahren ein.
Tatsächlich belegt eine Untersuchung des Massachusetts Institute of Technology (MIT), dass weltweit viele der wachstumsstärksten Unternehmen von Menschen über 40 Jahren gegründet wurden. Als wichtigste Ursachen werden Ressourcen wie Erfahrungswissen, Finanzkapital und Netzwerke genannt. Provokanter Titel der Studie und zugleich ihr Resümee: „Der zwanzigjährige Gründer ist eine Lüge!“
Zurück zu Katarzyna Kamrowski. Sie hat lange Zeit als Angestellte im Vertrieb gearbeitet. Mit 40 kamen ihr erste Gedanken, sich selbstständig zu machen. „Corona hat mich dann erstmal ausgebremst, doch das Kribbeln blieb.“ So nahm sie den Faden nach Ende der Pandemie wieder auf. Sie suchte das Gespräch mit anderen Gründerinnen und Gründern, kümmerte sich um Beratungstermine, verhandelte mit Produzenten in Polen und Tschechien. „Ich habe mich äußerst akribisch vorbereitet“, sagt sie. Und hat dann den Schritt ins nicht mehr ganz so Ungewisse gewagt. Katarzyna Kamrowski hatte sich einen festen Termin zum Starten gesetzt. Ein cleverer Schachzug, denn: „Es ist ein Fehler, eine solche Entscheidung zu lange vor sich herzuschieben.“
Entscheidung auf Pellworm
Das Bedürfnis, beruflich autonom zu agieren, war bei Friederike-Anna Kohtz schon immer stark ausgeprägt. Nach ihrer Ausbildung zur Zahnarzthelferin bildete sie sich kontinuierlich weiter und war anschließend als selbstständige Praxismanagerin deutschlandweit tätig. Nach Stationen in Düsseldorf und am Starnberger See kehrte die gebürtige Ostfriesin nach der Geburt ihrer zweiten Tochter nach Oldenburg zurück und konzentrierte sich zunächst auf ihre Familie. Mit ihrem Mann gründete sie hier eine Montessori-Schule. Doch es blieb der Wunsch, in ihren ursprünglichen Beruf zurückzukehren, aber mit mehr Freiheit und Selbstbestimmung.
Zum Brainstorming ging es mit Ehemann Rüdiger auf die Insel Pellworm. Ihr sei klar gewesen, betont die heute 56-Jährige, „dass ich etwas Eigenes aufbauen wollte, bei dem ich die Entscheidungen treffe und ein motivierendes und von gegenseitigem Respekt geprägtes Umfeld schaffe“. Die Ideenfindung dauerte nicht lange. „Schnell hingen überall in der Ferienwohnung Notizzettel mit Zielen und Gedanken.“ Das Ergebnis der Überlegungen hört auf den Namen Demaco und ist ein Anbieter professioneller zahnärztlicher Abrechnungsdienstleistungen. „Darin stecken all meine Erfahrung, mein Know-how und meine Innovationsfreude.“
Einmal mit dem Gründungsvirus infiziert, plant Friederike-Anna Kohtz nun, zur Wiederholungstäterin zu werden. Das neue Projekt heißt aimed. Zum Einsatz kommt eine Minikamera, die sich an jede Brille anbringen lässt. Durch eine per Künstlicher Intelligenz getriebene Videoanalyse erleichtert sie Zahnärztinnen und -ärzten sowohl die Diagnose als auch die Behandlungsplanung und die Abrechnung. Anders als bei Demaco sucht Kohtz für aimed externe Unterstützung. „Die Idee habe ich schon seit zwei Jahren und ich weiß seit der Präsentation beim Odontathon in Dortmund, einem Hackathon für Zahnmediziner, dass sie auf Interesse stößt. Aber für die richtige Strategie bei der Investorensuche benötige ich Input von außen.“ Den bekommt sie als Teilnehmerin an Batch 14 beim GO! Start-up Accelerator.
Reisebegleiter ins Metaverse
Obwohl sie bereits längere Zeit als Freiberufler unterwegs waren, gehören auch Henning Behrens (46) und Lars Klauke (52) zum Kreis der Spätgründer. Vor gut einem Jahr haben sie die Beratung im GO! Start-up Zentrum ebenfalls in Anspruch genommen und sich den notwendigen Feinschliff für ihr gemeinsames Projekt WattWeiser geholt. „Dabei handelt es sich um eine Art „Reisebegleiter in die Welt des Metaverse, der Blockchain und der künstlichen Intelligenz“, erklärt Lars Klauke, der sich selbst als jemanden beschreibt, „der Dinge gern ins Rollen bringt und mit Leidenschaft neue Projekte anschiebt“.
Die Erfolgsampel steht für WattWeiser auf Grün. „So wurden wir als eines von zehn Start-ups vom Land Niedersachsen zur Teilnahme an der letzten Hannover Messe eingeladen“, berichtet stolz Digitalexperte Henning Behrens, der vor einigen Jahren an der Entwicklung des europaweit ersten und mehrfach preisgekrönten virtuellen Campus beteiligt war. Er spricht davon, dass das Unternehmen Brücken zwischen der realen und der digitalen Welt baut. „Und das ist unglaublich spannend.“ Beispiel „Bildungsökosystem Nordwest“: Mit diesem Projekt werden Bildung und Lernen ganz neu definiert. Ein digitaler Begleiter (Avatar) unterstützt Verwaltungskräfte, Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler bei ihrer Tour durch das Metaverse. Für Behrens und Klauke der richtige Schritt zur richtigen Zeit: „Wir haben das alles schon 2019 durchdacht, aber da gab es noch keinen Markt.“
Zudem, so fügen sie an, gebe es einen gravierenden Unterschied zu den hippen (meist männlichen) Jungunternehmern Mitte 20: „Wenn du in unserem Alter gründest, weißt du einfach, was du tun musst und was du lassen kannst. Mit 25 ist alles neu. Man brennt total für seine Lösung, verliert aber oft Ziele und Zielgruppen aus den Augen.“
Alternativen zur Unterforderung
Lebenserfahrung und eine ordentliche Portion Gelassenheit zählen ganz sicher zu den größten Trümpfen der Gründerinnen und Gründer aus der Generation X, also den heute 45- bis 58-Jährigen. „Sie haben im besonderen Maße von der Hochschulbildung der 1980er- und 1990er-Jahre profitiert, ihre beruflichen Karrieren waren von der Einführung neuer Technologien geprägt, die Anpassungsfähigkeit und Weiterbildung erforderten“, schreibt dazu Jana Lunz, Programm-Managerin bei der Körber-Stiftung. Ferner könnte die Motivation in dieser Generation „getrieben sein von dem Bedürfnis nach beruflicher Autonomie und einer Umorientierung für die spätere Karriere“.
Ein nicht selten genanntes Motiv für Gründungen in der Mitte des Lebens ist die Wiederholung des Immergleichen im bisherigen Job. Vielfach fühlen sich Angestellte hier unterfordert oder wenig wertgeschätzt. Da sind Gedanken nicht allzu fern, sich in diesem Alter noch einmal neu zu orientieren. Weitere 20 Jahre Langweile? Nein, dann lieber mutig sein und etwas Eigenes versuchen. Unter den jüngeren Entrepreneuren genießen die älteren meist einen guten Ruf. Ihr Rat ist gefragt. Gerade wenn Geschäftsideen entwickelt, Risiken abgeschätzt oder Entscheidungen getroffen werden sollen greift man gern auf ihre Expertise zurück. „Die Potenziale der Älteren sind auch für die Start-up-Welt Gold wert“, fasst Jana Lunz zusammen.
Bausparer oder Visionär?
Einen anderen, indes nicht minder mutigen Weg als die bisher Vorgestellten ist Marco Kimme gegangen. Auch er entschloss sich mit 51, nach vielen Jahren als Angestellter Unternehmer zu werden. Allerdings hat er nicht neu gegründet – selbst, wenn vieles sich für ihn persönlich so anfühlen mag. Stattdessen hat er eine bereits existierende, renommierte Firma mit rund einhundert Beschäftigten übernommen. Seit Mitte 2024 ist er als Nachfolger von Jörg Hatscher Hauptgesellschafter der INTAX GmbH.
Die Entscheidung hat sich Marco Kimme nicht leichtgemacht. Schon vor zehn Jahren war der zwischenzeitlich zum Prokuristen aufgestiegene Mitarbeiter zum ersten Mal gefragt worden, ob er sich vorstellen könne, dem Firmengründer eines Tages als Chef nachzufolgen. Konnte er zu jener Zeit nicht. „Ich war einfach noch nicht so weit.“ Er habe die Verantwortung für die Führung des Autofolierbetriebs gescheut, „eher klein als groß gedacht“ und sich „mehr als Bausparer denn als Visionär“ gesehen.
Aber Jörg Hatscher ließ nicht locker. Er war sich sicher, dass er mit dem damaligen Geschäftsführer den richtigen Kandidaten längst gefunden hatte und den im Raum stehenden Einstieg auswärtiger Investoren gern vermeiden wollte. Im November 2023 gab es die entscheidende Beratung. Mit am Tisch der gemeinsame Steuerberater, ein guter Freund des Hauses. „Der hat mir schließlich meine wesentlichen Bedenken genommen“, sagt Marco Kimme. Als das Finanzielle geregelt war und der Familienrat um seine Ehefrau und Sohn Jonas, der inzwischen ebenfalls ein INTAXler ist, zustimmte, stand fest: Marco macht’s.
Der Wissenschaft vertrauen
Egal, ob Neugründung oder Übernahme: Wer sich zu einem dieser Schritte entschließt, bringt neben einem hoffentlich ausgefeilten Plan Mut und Risikobereitschaft mit – und das unabhängig vom Alter. Dass im Fokus der Medien eher die coolen Youngsters stehen, sollte niemanden schrecken. Schließlich liegt es nicht jedem, schon mit 50 eine ruhige Kugel zu schieben. Und wer sich unsicher ist, kann auf die Wissenschaft vertrauen:
Laut Kreditanstalt für Wiederaufbau liegt das beste Alter für einen Firmenstart zwischen 45 und 55 Jahren. Diese Gruppe ist statistisch gesehen die erfolgreichste, wenn es um Neugründungen geht.
Zuletzt geändert am 16. Dezember 2024