Nina Bußmann: „Dickicht“
Gespräch
Konstellationen: Sucht und Kontrolle
Nina Bußmann, geboren 1980 in Frankfurt am Main, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Philosophie in Berlin und Warschau und lebt heute in Berlin. Für ihre Romane erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien, wie den Robert Gernhardt Preis 2019.
In ihrem Roman Dickicht erzählt sie von drei Menschen in der Großstadt, die um Kontrolle kämpfen, sie aber längst verloren haben. In prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse verstrickt, taumeln sie zwischen Abhängigkeiten und Freundschaften, Therapieversprechen und spirituellen Verlockungen. Ohne Rausch kommt kaum einer aus. Und dennoch suchen sie alle nach Klarheit.
Am 21. März 2021 hätte die Schriftstellerin in unserem Programm aus ihrem Roman lesen und mit Michael Sommer sprechen sollen, der eine Professur für Alte Geschichte innehat und Vorsitzender des Philosophischen Fakultätentags ist. Die Veranstaltung musste coronabedingt abgesagt werden. Der Austausch fand stattdessen in schriftlicher Form statt.
Interview: „Es gibt lose Enden statt geschlossener Dramaturgie. Mir ist bewusst, dass man sich darauf einlassen muss. Aber es käme mir unehrlich vor, die Dinge einfacher zu machen, als sie sind.“
Digitale Begegnungen
Anfangen würde ich gerne mit einer persönlichen Frage. Uns beide verbindet ja das Bücherschreiben. Für mich ganz wesentlich daran ist, dass man sein Lesepublikum immer wieder auch kennenlernen kann, auf Veranstaltungen wie der, die eigentlich in Oldenburg hätte stattfinden sollen. Wie kommen Sie als Autorin damit klar, dass Lesungen und Diskussionsveranstaltungen zurzeit, wenn überhaupt, nur online stattfinden können?
Kürzlich hat eine Freundin mir die Vorzüge des Digitalisierungsschubs aufgezählt, vor allem die soziale Öffnung. Digitale Angebote können auch von Menschen genutzt werden, die nicht in der Großstadt wohnen oder nicht von zu Hause wegkönnen, weil sie sich dort um jemanden kümmern müssen, etcetera. Man braucht keine Eintrittskarte oder wenigstens keine sehr teure, man muss sich nicht feinmachen. Wir können also zumindest hoffen, dass jetzt ein Publikum erreicht wird, das normalerweise nicht ins Literaturhaus kommt. Mich persönlich machen Videoschalten müde, als Konsumentin nutze ich selbst diese Angebote gar nicht. Als Autorin freue ich mich, dass wir jetzt einmal ein anderes Format ausprobieren, und ich will Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit nehmen! Ich merke aber auch schon jetzt beim Schreiben: Ein Gespräch ist das hier natürlich nicht, das würde ja davon leben, dass wir einander begegnen. Und nicht so viel Zeit haben, unsere Worte zu wählen. Manchmal ist das ja besser.
Suchbewegungen
Ja, das Fehlen einer echten Gesprächsatmosphäre bedaure ich auch sehr. Aber wir geben unser Bestes! Der Titel „Dickicht“ trifft in meinen Augen das sehr gut, was die Leserin und den Leser im Roman erwartet. Dickicht ist die namenlose Großstadt, die den Akteurinnen und Akteuren als Bühne dient; Dickicht die komplexen Beziehungsmuster zwischen den Personen; ein Dickicht aber auch die komplexe Erzählstruktur, in die man sich als Leserin und Leser versenken muss und in der man immer wieder die Orientierung verliert. Ist Orientierungslosigkeit – der Protagonisten, aber auch der Leserin und des Lesers – für Sie ein Großthema der Moderne, dem Sie sich in immer wieder neuen Konstellationen stellen? Mir kommt das so vor, auch wenn ich an „Große Ferien“ und „Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen“ denke.
Alle Figuren befinden sich in einer Krise, also einer Übergangssituation. Es ist richtig, dass sie ihren inneren Kompass verloren haben, es ist klar, dass die Werte und Strategien, mit denen sie bislang durchs Leben gekommen sind, nicht mehr passen. Etwas anderes muss an deren Stelle treten, noch ist unklar, was. Als Erzählerin war es mir wichtig, nicht besser Bescheid zu wissen, kein Programm zu haben, sondern die Suchbewegungen nachzuvollziehen und nachvollziehbar zu machen. Es gibt lose Enden statt geschlossener Dramaturgie. Mir ist bewusst, dass man sich darauf einlassen muss. Aber es käme mir unehrlich vor, die Dinge einfacher zu machen, als sie sind.
Das kann ich gut nachvollziehen. An einer Stelle im Roman heißt es: „Das magische Denken beschwört Bilder, wo die Psychologie mit Begriffen operiert.“ Und dann: „Ich wüsste nicht, warum man nicht wieder anfangen sollte in Bildern zu denken.“ Mich fasziniert diese Stelle als Althistoriker, der es mit vormodernen Gesellschaften zu tun hat, in denen Magie einen festen Platz hat. Bietet Magie dort Orientierung, wo die Wissensgesellschaft nur Unübersichtlichkeit schafft? Eine Orientierung, die Wissenschaft und Therapie nicht bieten können?
Ich habe gehört, dass in den USA nach der Finanzkrise Horoskope sehr beliebt wurden, und vor zwei Jahren sah ich dort Handleserinnen an jeder Ecke. Nicht auf der Straße, sondern in Ladenlokalen, offenbar reichte ihr Gewinn, die Mieten in Manhattan zu bezahlen. Mich hat der in Analysen hergestellte Zusammenhang mit der Finanzkrise gleich überzeugt. Da geht es um Zusammenhänge, die selbst von denen, die in ihnen arbeiten, nicht komplett überschaut werden können. Auch das Sprechen über Märkte schreibt ihnen mindestens naturwüchsige Macht zu, oft mystifiziert es noch stärker.
Mich selbst fasziniert Spiritualität, weil ich sie nicht kenne, ich bin ohne Kirche aufgewachsen. Der Satz „... beschwört Bilder, wo die Psychologie (oder generell: die Wissenschaft) mit Begriffen operiert“ beschreibt natürlich auch das, was Literatur tut oder tun kann. Etwas daran ist mir also ziemlich nah, aber ich weiß nicht, wie Beten geht. Ich kann es nur anschauen.
Mir geht es nicht anders. Ich arbeite gerade über einen Boom magischer und okkulter Praktiken am Ende der römischen Republik. Eine mögliche Parallele ist die spirituelle Welle im 19. Jahrhundert und dann vielleicht noch einmal die „New Age“-Bewegung. Mir scheint es bei solchen Tendenzen gerade vor dem Hintergrund einer zunehmend rational agierenden Gesellschaft immer auch um Versuche zu gehen, verloren gegangene oder verlorengeglaubte Kontrolle zurückgewinnen. Das scheint mir auch im Roman ein Motiv zu sein, oder?
Ja, es gibt ein starkes Streben, wieder handlungsfähig zu werden oder sich zumindest so zu fühlen. Max und Katja beschäftigen sich vor allem mit Angeboten im Feld der „persönlichen Weiterentwicklung“. Da werden Anleihen aus Philosophie, Religion und Esoterik genommen, um Transzendenz, Unverfügbarkeit, ein Ausgeliefertsein an etwas Höheres geht es aber tatsächlich kaum. Ich gebe das hier sehr verkürzt wieder, aber bei meinen Recherchen begegnete mir häufiger die Botschaft: Es gibt Kräfte, die sind größer als du. Du kannst sie nutzen, du musst sie nutzen, dann kannst du alles erreichen, etcetera. Deutlich wird auch zum Ausdruck gebracht: Wenn es nichts wird, liegt es an dir.
Erzählweise
Neben der Orientierungslosigkeit scheint mir das Ausgeliefertsein ein roter Faden im Roman zu sein. Max und seine Gruppe kämpfen einen aussichtslosen Kampf gegen die Gentrifizierung, Katja fliegt per Trennung aus ihrer Wohnung, Ruth nach einer Räumungsklage. Man besucht mit den Charakteren gleich mehrfach ausgeräumte Wohnungen, aus denen sie ausziehen müssen. „Dickicht“ ist unter anderem auch ein Roman über Wohnungsnot. Ein Problem ist für mich, dass ich als Leser die drei Protagonisten aus großer Distanz wahrnehme. Das mag daran liegen, dass ich selbst nicht in prekären Verhältnissen lebe, es liegt aber fraglos auch an der Erzählweise des Romans. Ist die Distanz beabsichtigt oder erlebe nur ich das so?
Wir haben eine Wohnungskrise in vielen Großstädten, längst ist auch die Mittelschicht betroffen. Das ist Alltag. Ich fände es schwierig, einen Roman zu schreiben, der in einer Großstadt spielt und diesen Alltag nicht vorkommen lässt. Ich glaube aber, hier geht es gerade um etwas anderes, Sie erwähnen ja selbst die Erzählweise, die Sie auf Distanz hält. Vielleicht können Sie mir genauer beschreiben, wie sie das macht?
Es mag an den häufig wechselnden Perspektiven liegen, durch die man ja als Leserin und Leser hin und her gestoßen wird zwischen verschiedenen Modi der Wahrnehmung. Man wechselt zwischen subjektiven und objektiven Einstellungen und hat, wie die Protagonisten, Angst, sich im Dickicht der Blickwinkel zu verirren. Das ist ja ein Effekt, den der Roman ganz bewusst erzielt. Bei der Distanz bin ich mir da nicht so sicher. Das könnte natürlich auch an mir liegen, dass ich einfach Probleme habe, mich in Figuren hineinzudenken, die so ticken wie Katja, Ruth oder Max.
Meine große und wahrscheinlich überhöhte Hoffnung in die Literatur ist, dass sie uns mit Figuren fühlen lässt, die uns nicht ähnlich sind. Und mehrere Geschichten im Buch kreisen um unwahrscheinliche oder unmögliche Freundschaften zwischen Menschen, die sehr wenig miteinander gemeinsam haben. Aber natürlich geht das nicht, den eigenen Horizont komplett zu überschreiten, das ist ja im echten Leben nicht anders. Und sicher hilft es, wenn die Literatur umgekehrt dem Lesepublikum entgegenkommt und den Zugang zur erzählten Welt nicht unnötig kompliziert macht. Auf keinen Fall will ich Verwirrungseffekte erzielen, jedenfalls sicher nicht bewusst, und der Roman tut das auch nicht bewusst. Ich bin da selbst noch auf der Suche nach dem besten Weg.
Schmerz und Empathie
Ich lese den Roman deshalb mehr als Psychogramm verletzlicher Menschen denn als Gesellschaftskritik, mehr als Studie über die Unmöglichkeit von Empathie als das Scheitern von Solidarität. An einer Stelle liest man zwar: „Was heißt, schlecht behandelt? Alle werden im Kapitalismus schlecht behandelt“, doch lese ich das als die Äußerung einer Romanfigur, nicht des Romans. Mich würde interessieren, wie Sie diesen Satz verstehen.
Solidarität, lernte ich, heißt: gemeinsam kämpfen, auch wenn man privat nicht viel gemeinsam hat. Eine Genossin muss keine Freundin sein und umgekehrt. „Man ist nicht befreundet, man arbeitet politisch zusammen“, heißt es sinngemäß aus der politischen Gruppe im Roman. Es ist Max, der mit dieser Trennung nicht gut zurechtkommt. Wahrscheinlich sind ihm auch die großen Ziele nicht klar oder nicht dringend genug (Erfahrungen mit Armut hat er nicht). Aber sein Engagement bricht vor allem deshalb ab, weil er von der Gruppe enttäuscht ist, unter anderem davon, dass Empathie und Freundschaft dort für die politische Arbeit keine Rolle spielen sollen. Auch manche soziale Bewegungen denken den Begriff der Solidarität inzwischen anders. Ich für mein Teil bin mir sicher, dass in einer stark konkurrenzgetriebenen Gesellschaft Empathie vielleicht nicht unmöglich, aber schwer zu erbringen ist. In dem von Ihnen zitierten Satz spricht eine informierte Studentin über Lohnarbeit und meint: Max' Schwester hatte in ihrem Job als Zimmermädchen nicht nur Pech mit den Vorgesetzten, sondern es geht um ein strukturelles Problem. Mit dem Wort alle irrt sie sich allerdings. Manche werden sehr viel schlechter behandelt als andere.
Das ist interessant. Die Pauschalisierung fand ich auch hochproblematisch. Immer wieder konfrontiert uns der Roman mit Verletzungen des Körpers. Katjas Haare fallen aus, Ruth hat mit den Folgen eines Unfalls zu kämpfen, der sich nur in Umrissen rekonstruieren lässt, vor allem aber mit dem Alkohol. Der Roman erzeugt immer wieder schmerzhafte Bilder: das Berühren von Kakteen oder Sanjas Hand und Unterarme, „Felder aus purpurnen Einstichpunkten“. Man hat den Eindruck, dass es gerade der verletzte Körper ist, der in zarten Ansätzen die Möglichkeit des Verstehens schafft, etwa bei Milan und Katja, während ausgerechnet Heilung die Figuren auseinanderrückt. Warum ist das so?
Wer verletzt ist, zeigt Schwäche, und ohne Schwäche kann es keine Nähe geben. Gleichzeitig sind die Figuren im Roman oft zu gehetzt und zu sehr mit ihren unmittelbaren Zielen beschäftigt, um aus der Deckung zu kommen. Der Anblick einer Wunde zwingt einen dazu, besser hinzuschauen.
Ich bin mir unsicher, ob Heilung die Figuren zwingend auseinanderrückt. Beziehungsweise ob das etwas Schlimmes ist. Gesundwerden kann bedeuten, sich von geliebten Symptomen zu trennen, und ebenso, sich aus einer Beziehung zu lösen, die schon länger nicht mehr gut war. Milan und Katja trennen sich, weil er ihre Lebendigkeit nicht erträgt, das ist jedenfalls ihre Deutung. Möglich, dass er ihre Fürsorge bevormundend fand, es schlecht ausgehalten hat, während seiner Krankheit der vermeintlich Schwächere zu sein. Nah waren sie einander jedenfalls schon lang vor der Trennung nicht mehr.
Und Ruth und Max bleiben am Ende zusammen.
Herzlichen Dank dafür, dass Sie sich so viel Zeit genommen und sich auf dieses nicht ganz gewöhnliche Gesprächsformat eingelassen haben. Ich hoffe, es dauert nicht lange, bis wir uns im wirklichen Leben begegnen.
Ich danke Ihnen!
Zuletzt geändert am 5. Mai 2023