Editorial

Kafka war kein Käfer

Seit ich an dieser Stelle über meine Rückenschmerzen schrieb, werde ich ständig gefragt, ob es besser geworden ist mit den Verspannungen. Vor zwei Jahren erwähnte ich in einem Editorial meine Allergien, zu denen auch eine gegen Tierhaare gehört. Ich schrieb, dass ich sogar an den kältesten Tagen des Jahres nur einen dicken Baumwollpulli tragen kann. Prompt traf die Karte einer freundlichen Frau bei mir ein, die Tipps für wärmere Wollalternativen gab. Ich bin gerührt von so viel Sorge um mein Wohlbefinden und frage mich, ob ich weniger oft ICH schreiben sollte in diesen kurzen Texten vor den Programmankündigungen. Weil es keine literarischen Formulierungen sind, dürfen Sie ja für bare Münze nehmen, was ich hier behaupte. Sie dürfen sich um mich sorgen oder mit mir jubeln, wenn Anlass dazu besteht. Gleichzeitig werde ich nicht müde davor zu warnen, die Erzählstimmen in literarischen Veröffentlichungen mit ihren Autorinnen und Autoren gleichzusetzen, wenn ein Ich aus ihnen spricht. Mein kulturfern aufgewachsener Vater trieb die Leugnung jeglicher Fiktion einst auf die Spitze, als er nach der Lektüre eines Romans, den ich geschenkt hatte, empört feststellte, es sei doch gar nicht wahr, was der Autor sage. Was er eigentlich meinte war: Die Haltung der Figur passt nicht in mein Weltbild. Muss sie ja auch nicht, aber mit dem Mann, der sie entworfen hat, hätte er sich womöglich dennoch blendend verstehen können. Deshalb freut es mich immer, wenn Schriftstellerinnen und Schriftsteller die gern angenommene Nähe zu ihrem Personal selbst geraderücken können: Bei einer Lesung Jan Brandts aus seinem Debüt Gegen die Welt fragte in meinem Beisein ein junger Mann aus dem Publikum, ob er das alles selbst erlebt habe. „Natürlich“, antwortete der Schriftsteller todernst, „bin ich als Grundschüler von Außerirdischen entführt worden“. Ähnlich schön brachte Carsten Otte es vor Jahren bei einer Veranstaltung in meinem Programm auf den Punkt: „Der Autor Otte ist sehr viel weniger skeptisch als die Figur Jan. Um es banal zu sagen: Kafka war kein Käfer.“ Wenn Peter Stamm mit seinen neuen Erzählungen zu uns kommt, müssen wir vermutlich betonen, dass er nicht identisch ist mit einer der Figuren dieser Kurzgeschichten. Immerhin machte er sich in einem herrlichen literarischen Verwirrspiel 2023 selbst zur Romanfigur. Auch bei der Lesung von Dmitrij Kapitelman sollte ich darauf hinweisen, dass Autor und Erzähler im Roman Russische Spezialitäten nicht deckungsgleich sind. Kafka war ganz gewiss kein Käfer. Aber die Rückenschmerzen in meiner Gebrauchsprosa sind leider real.

Ed

Zuletzt geändert am 3. Juli 2025