Oldenburg. Der Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg 2024 geht in diesem Jahr an die Autorin Ulla Schuh: Sie wird für ihr Jugendbuchmanuskript „ICH in 100 Teilen“ ausgezeichnet – ein Manuskript über die Suche zweier Jugendlicher nach ihrer Identität, mit einer ganz eigenen, lyrischen Sprachform. Die Preisrede während der Verleihung hielt der Autor und Illustrator Martin Baltscheit. Bürgermeisterin Nicole Piechotta würdigte alle drei Nominierten, bevor sie die Preisträgerin Ulla Schuh am Montagabend, 18. November, im Alten Rathaus in Oldenburg verkündete. Der Festakt wurde moderiert von Jurymitglied Christine Paxmann und musikalisch begleitet von Melina Röben.
Jurymitglied Markus Lefrançois begründete die Preisvergabe an die Autorin: „Die Sprache, derer sich Ulla Schuh bedient, ist eine Wucht und wirkt ebenso gewaltig! Sie schreibt in einer Art lyrischer Versform; Sätze sind durch Absätze unterbrochen, einzelne Satzglieder oder Wörter bleiben alleine stehen. So erschafft Ulla Schuh einen möglichen Raum für Assoziationen und Bedeutung und spielt leicht und mühelos die Möglichkeiten der Betonung aus, die der Lyrik von Grund auf innewohnt. So sehr passend und treffend erscheint mir dieses frei assoziative Spiel der Worte und Sätze, dieses Brechen mit starrem Regelwerk einer angelernten Schreib- und somit Denkweise; gerade im Kontext zu der weiterhin hochaktuellen und überhaupt nicht zufriedenstellend abgeschlossenen Debatte und Emotionalität bei der Suche nach Bezeichnungen zu sexueller Zugehörigkeit und deren Akzeptanz.“
Laudator Martin Baltscheit: Sie haben Ihren Platz gefunden
Die Preisrede hielt Martin Baltscheit, renommierter Kinderbuchautor und -illustrator („Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“, prämiert mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2011): „Schöner als Markus Lefrançois kann man es nicht sagen. Das ist ein Text, der einen Preis verdient hat. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Preis, Ihrer Arbeit und den Figuren, die uns diese Geschichte erzählt haben. Die Ihnen diese Geschichte erzählt haben. Sie haben Ihren Platz gefunden und obwohl ich Sie nicht kenne und nur ihren Text, glaube ich, einem sensiblen Menschen begegnet zu sein. Einer Autorin, die den allerschönsten Zaubertrick des Schreibens beherrscht: Das Verschwinden hinter ihrer Geschichte.“
Über Ulla Schuh und das Manuskript „ICH in 100 Teilen“
Ulla Schuh, geboren 1978 in Nürnberg, studierte Germanistik und Geschichte in Erlangen und Wien. Sie arbeitet als Lehrerin an einem Gymnasium und leitet eine Schreibwerkstatt für Jugendliche, die 2023 eine lobende Anerkennung des Segeberger Preises erhielt. 2022 wurde sie mit dem Sonderpreis des Kinder- und Jugendliteraturpreises des Landes Steiermark ausgezeichnet.
Im Mittelpunkt von „ICH in 100 Teilen“ steht Rike: Seit ihrer Kindheit fühlt sie sich in ihrer Familie fremd und unverstanden. Als sie Nico kennenlernt, der sich selbst als trans bezeichnet, lernt sie, ihrer eigenen Stimme zu trauen und findet Worte für ihr Unbehagen. Sie entdeckt, dass sie ein Kuckuckskind ist und macht sich mit Nico auf die Suche nach ihrem Vater. Ihr gemeinsamer Weg ins Ungewisse, ihre intensive Suche nach der eigenen Identität, bringt sie nicht nur einander näher, sondern auch ein Stück zu sich selbst.
Jurymitglied Birgit Müller-Bardorff über den Auswahlprozess und die Nominierten
Unter 203 Einsendungen, darunter 76 verlegte Werke und 127 Manuskripte, hatte die Jury zunächst zwei Bücher und ein Manuskript ausgewählt: Nominiert waren neben Ulla Schuh ebenfalls Mandy Schlundt mit ihrem Kinderbuch „Rappel im Karton“ (S. Fischer) und Volker Surmann mit seinem Jugendbuch „Leon Hertz und die Sache mit der Traurigkeit“ (Mixtvision).
„Ich weiß nicht, ob man bereits dran sitzt, eine KI mit Kriterien und vorhandenen Jurystatements zu füttern, aber auch Jurys sollte man natürlich nicht durch Künstliche Intelligenz ersetzen. Denn auch hier ist der Faktor Mensch nicht zu unterschätzen. Unterschiedliche Leseerfahrungen, Kriterien, Geschmäcker und Sozialisation in der Welt der Literatur kommen zusammen und versuchen sich – wie in unserem Fall – auf einen Gewinner/eine Gewinnerin unter drei Nominierten zu einigen. Da wird gerungen, überzeugt, wieder verworfen, und schließlich nach höchst temperamentvollen Diskussionen ein Konsens gefunden, der jetzt diese zufriedenen Minen auf unseren Gesichtern erzeugt“, erzählte Jurorin Birgit Müller-Bardorff während der Verleihung. „Wir haben in diesem Jahr drei Texte gefunden, die von jungen Menschen erzählen, von ihrem Glück und ihrer Not, von ihrem Ringen um das Selbst und dem Zurechtfinden mit den Anderen. In ganz besonderem Maße entwickeln diese Texte eine poetische Kraft – und sind darin selbst zutiefst menschlich.“
Über den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg
Seit 1977 vergibt die Stadt Oldenburg einen Preis für herausragende literarische und künstlerische Leistungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur. Als Förderpreis dient er dem Ansporn und der Ermutigung von Autorinnen und Autoren beziehungsweise Illustratorinnen und Illustratoren, die ein Erstlingswerk – sei es ein bereits verlegtes Buch oder ein Manuskript – in diesem Bereich vorlegen. Durch den Preis sollen innovative Ideen eine Chance erhalten und Anreize geschaffen werden, die Werke Unbekannter in die Verlagsprogramme aufzunehmen.