2023: Elisabeth Steinkellner

im Gespräch mit Thomas Boyken

Zum Auftakt der Reihe trat am 21.06.2023 die Schriftstellerin Elisabeth Steinkellner (geboren 1981 in Niederösterreich) im Programm des Literaturhauses auf. Sie machte eine Ausbildung zur Sozialpädagogin und studierte Kultur- und Sozialanthropologie in Wien. Elisabeth Steinkellner ist Autorin von Kurzprosa, Lyrik sowie Kinder- und Jugendbüchern. Sowohl für den Gedichtband Die Nacht, der Falter und ich (2016) als auch für den Jugendroman Esther und Salomon (2021) erhielt sie den Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis. 2020 erschien ihr von Anna Gusella illustriertes Jugendbuch Papierklavier:

In der Form eines Tagebuchs erzählt es von der 16-jährigen Maia, die zwischen Schule, Teilzeitjob und ihrer Rolle als Ersatzmutter für ihre jüngeren Schwestern pendelt. Schnoddrig, selbstbewusst und mit zwei besten Freundinnen an ihrer Seite geht sie durchs Leben, kämpft manchmal gegen ihre eigenen Kilos, meist aber gegen zu starre Schönheitsnormen. Sie steht zu sich und hält zu ihren Freundinnen – komme, was da wolle. Ihre Gefühle schreibt sie nieder, mit Bildern, die da einspringen, wo Maia keine Worte findet.

Im Wilhelm13 las Elisabeth Steinkellner aus Papierklavier und sprach mit dem Oldenburger Literaturwissenschaftler Thomas Boyken über ihr Werk und ihr Selbstverständnis als Autorin der KJL:
 

Ich würde einem Kind keine Geschichte zumuten wollen, die hoffnungslos endet

Das Interesse am Visuellen als Voraussetzung fürs Schreiben

Laut ihrer Internetseite wollten sie schon mit circa zwölf Jahren Schriftstellerin werden, alternativ Meeresbiologin oder Schaufensterdekorateurin. Warum ist es denn am Ende Schriftstellerei geworden und nicht Meeresbiologie oder Schaufensterdekoration?

Warum ich Schriftstellerin geworden bin? Einerseits hätte ich mir für mich einfach verschiedenste Wege vorstellen können. Andererseits: Was sich wahrscheinlich durch alle meine Lebensalter durchgezogen hat, waren das ausgeprägte Tagträumen und das Reinschlüpfen in unterschiedliche Begebenheiten und Geschichten. Und vielleicht ist es genau deshalb die Schriftstellerei geworden, weil es im Schreiben immer möglich ist, in andere Welten reinzuschlüpfen.

Und darf ich so indiskret fragen, was sie an der Meeresbiologie oder der Schaufensterdekoration interessiert?

Ich bin in Österreich aufgewachsen und das Meer war jetzt nicht gerade nahe. Ich habe mich aber immer sehr für Muscheln und Schnecken interessiert, und das Meer fasziniert mich bis heute. Ich bin keine große Meerschwimmerin, aber diese Welt da drunten finde ich einfach irrsinnig interessant und noch so geheimnisvoll. Und die Schaufensterdekoration? Eigentlich wollte ich noch viele andere Dinge dazwischen, ich wollte auch mal Grafikdesign und Fotografie machen, und das drückt wahrscheinlich am ehesten mein visuelles Interesse aus. Ich war keine gute Zeichnerin aber ich hatte immer ein Interesse am Gestalten und am Visuellen.

Wie wichtig ist für sie die visuelle Ebene beim Schreiben? Beeinflusst sie ihre Texte?

Also ich bin tendenziell eigentlich weniger die Handwerkerin am Text, sondern eine intuitive Schreiberin. Und ich denke wahrscheinlich generell sehr visuell. Meine Inspirationen und auch mein künstlerisches Verständnis kommen zum einen natürlich aus der Literatur, aber ich würde meinen zu ähnlich großen Anteilen auch aus meiner Liebe zum Film. Ja, irgendwo begleitet mich auch immer diese visuelle Ebene.

Das Konzept für das Projekt „Papierklavier“ kam ursprünglich nicht von ihnen, es kam vom Verlag?

Das Konzept des Verlags war die formale Vorgabe. Es sollte ein Buch entstehen, bei dem Text und Bild als gleichwertige Erzählmittel fungieren. Es gab keine inhaltliche Vorgabe, es war auch nicht vorgegeben, dass es ein Tagebuch werden soll. Sowohl die inhaltliche Ausgestaltung als auch das Zusammenspiel von Text und Bild haben Anna Gusella und ich zusammen entwickelt. Das tolle Layout und das wunderbare Zusammenspiel, das geht wirklich auf Annas Kappe, und da verneige ich mich ganz tief vor ihr. Ich hatte die Struktur, also die Seitenaufteilung vorgegeben, aber wie sie arrangiert hat, das ist alles ihr Werk.

Soziale Problemlagen und Glück

Sie haben eine Vorliebe für kurze Formen. Auch ihr Buch „Papierklavier“ besteht aus vielen Episoden, die als Mosaik erst zusammen ein Bild ergeben. Es ist das Bild einer versehrten Familie. Wir haben eine alleinerziehende Mutter mit drei Töchtern von drei unterschiedlichen Männern, und alles ist knapp; die Wohnung ist zu eng, das Bett ist zu klein, die Töchter wohnen auf 9m² in einem Zimmer. Das Buch beginnt mit einer Potenzierung dieser prekären Situation, denn Sieglinde, eine Mitbewohnerin des Hauses, welche die Situation der Kleinfamilie bisher etwas erträglicher machte, ist verstorben. Das ergibt eine enorm tragische Konstellation. Und trotzdem haben wir gerade geschmunzelt und gelacht, als sie aus dem Buch vorgelesen haben. Wie passt das zusammen?

Ich habe mich Schritt für Schritt an die Geschichte herangetastet, und als ich zu schreiben begonnen habe und Maias Figur zu entwickeln begonnen habe, da wusste ich nur die Ausgangssituation: Ich wollte Maia in prekäre Lebensverhältnisse stellen. Trotzdem war dann der allererste Text, den ich geschrieben und damit Maia in den Mund gelegt habe, ein Text über das Glück. Dass die Suche nach dem kleinen Glück, das oft nur Fingerhutgröße hat, letztlich eine Klammer für das Buch werden wird, konnte ich am Anfang noch gar nicht ahnen. Oma Sieglinde kam erst viel später ins Spiel. Viele Dinge, die jetzt ein wichtiges auslösendes Moment für die Geschichte sind, kamen beim Schreiben erst später hinzu. Zur Ausgangssituation gehörte aber ganz sicher, dass die Figur, wie man es mit diesem etwas überstrapazierten Wort sagen würde, resilient ist. Dass sie die Gabe hat, sich nicht unterkriegen zu lassen.

Ja, sie ist frech, sie ist schlagfertig, auch ein bisschen zynisch. Und für eine 16-Jährige ziemlich taff, oder?

Sie muss in ihrer Lebenssituation taff sein. Aber sie hat auch eine sehr gefühlvolle Seite, und die versteckt sie auch nicht, obwohl sie das in ihrer Lebenssituation immer ausbalancieren muss.

Sie haben für den Vortrag auch Textstellen ausgewählt, bei denen es um das Klavierspiel geht. Die jüngste Schwester von Maia, Heidi, durfte bei Oma Sieglinde auf dem Klavier spielen. Oma Sieglinde scheint auch komponiert zu haben, wie wir am Ende von Maias Tagesbuch lesen. Was hat es mit dem Leitmotiv Papierklavier auf sich?

Auch das Papierklavier kam erst später ins Spiel. Es ist ein Sinnbild für das ganze Buch. Es symbolisiert den großen Mangel, aus dem trotzdem etwas entsteht. Trotzdem spielt Heidi darauf. Sie spielt, sie lässt es nicht los. Sie lässt sich von dem Mangel nicht unterkriegen. Und Maia ist eine unglaublich tolle Schwester, die am Ende tatsächlich Klavierstunden für Heidi ermöglicht – durch eine zusätzliche Schicht im Saftladen.

Geschichten ohne Happy End

Aber ein Happy End wird verweigert. Oma Sieglinde ist gestorben, und es hätte ja auch sein können, dass beispielsweise die Familie das Klavier erbt. Das passiert aber gerade nicht. So ein richtiges Happy End lassen Sie der Familie nicht zuteilwerden.

Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich generell nicht so ein Fan von Happy Ends bin, weil ich immer nur einen Ausschnitt zeige. Und ein Happy End verleitet dazu, dass man zufrieden das Buch schließt und denkt: „Ja, ist ja alles gut ausgegangen“. Aber in Wirklichkeit ist doch nie irgendwas zu Ende, ist nie irgendwas abgeschlossen. Und auf eine gute Fügung, so spielt das Leben, folgen auch wieder Rückschläge.

Sie sprechen nicht nur soziale Problemlagen, prekäre Milieus an, sondern wir haben auch Passagen gehört, die Fragen von Gender behandeln. Ist auch die Genderthematik peu à peu in die Geschichte reingekommen?

Ich glaube, das war relativ früh klar, ohne dass ich es bewusst so beschlossen hätte. Dass Genderaspekte oder feministisches Denken einfließen, hat einfach zu dieser Figur gepasst. Es hat zu der Figur der Maia dazugehört. Und auch Carla war für mich einfach da als genderfluide Person. Ich habe dann tatsächlich überlegt, ob ich dieses Thema vielleicht doch wieder rausnehme, damit es nicht zu viel wird. Aber wenn eine Figur schon da ist – und sie sind einfach oft „so: zack“ da – dann würde man sich beschneiden, und ich hätte mich dann mit keiner anderen Carla mehr anfreunden können.

Die Rezeption von Kinder- und Jugendliteratur

„Papierklavier“ und „Die Nacht, der Falter und ich“, sind beides Bücher, die zur Jugendliteratur gehören. Schreibt man für Kinder oder Jugendliche anders als für Erwachsene?

Ich bedenke schon mit, dass ich für Kinder und Jugendliche schreibe. Das Wichtigste ist, den eigenen Figuren und der eigenen Geschichte treu zu bleiben. Wie die Entscheidung für Kinder oder Jugendliche zu schreiben mein Schreiben beeinflusst, ist schwer zu sagen. Ich würde ein Buch für Kinder und wahrscheinlich auch für Jugendliche – wobei, da ist es nicht ganz so sicher – aber nie in Hoffnungslosigkeit enden lassen. Ich bin zwar überhaupt kein Fan von klassischen Happy Ends, aber ich würde einem Kind keine Geschichte zumuten wollen, die hoffnungslos endet.

Werden Ihre Texte, die ja sehr direkt als Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht werden, anders wahrgenommen als die Texte von Kolleginnen und Kollegen, die Erwachsenenliteratur schreiben?

Ich glaube, meine Texte werden außerhalb der kinder- und jugendliterarischen Szene gar nicht wahrgenommen. Ich kann nicht beurteilen, wie es in Deutschland ist, aber meiner Erfahrung nach ist es zumindest in Österreich so, dass da ganz klare Abgrenzungen bestehen. Als Österreich Gastland der Leipziger Buchmesse war, gab es natürlich eine Kampagne, eine Lesereihe, und man hat bei der Planung tatsächlich die Kinder- und Jugendliteratur völlig vergessen. Erst als Verlage an die Veranstalter*innen herangetreten sind und nach der Kinder- und Jugendliteratur fragten, ist es aufgefallen. Daran sieht man, dass sie in vielen Köpfen offensichtlich immer noch nicht als Literatur gilt.

Aber wenn es keine Literatur ist, was ist es dann?

Ja, was ist es dann? Dann sind es vielleicht Geschichten. Ich weiß gar nicht, ob sich die Leute darüber Gedanken machen.

Üblicherweise wird Literatur für Erwachsene auch anders rezipiert. In ihr dürfen Dinge geschrieben und gesagt werden, dürfen Erzählperspektiven eingenommen werden, die vielleicht eher tabuisiert sind. Es gibt einen gewissen ästhetischen Freiraum – und den gibt man der Kinder- und Jugendliteratur nicht?

Also ich würde sagen, innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur gibt es den sehr wohl. Sie ist irrsinnig vielfältig und hat so viele unterschiedliche Themen. Auch in ihrer formalen Umsetzung gibt es so viel Innovatives. Wie sie von außen betrachtet wird, kann ich schwer einschätzen. Ich beobachte nur, dass es tatsächlich ein Gefälle gibt. Das sieht man schon an den unterschiedlichen Verlagen. Es gibt auch unterschiedliche Literaturfestivals und unterschiedliche Ansprechpersonen in der Szene. Die Veröffentlichung meines allerersten Bilderbuchs ist in eine Zeit gefallen, in der ich meine ersten Kurzprosatexte in Literaturzeitschriften veröffentlicht habe, und ich bin ein bisschen vor dieser Frage gestanden: Welchen Weg schlage ich jetzt ein? Ich wusste, es geht sich nicht beides aus für mich, ich muss mich entscheiden und ich habe mich dann für die Kinder- und Jugendliteratur entschieden. Aber ich wusste, wenn ich einen Verlag für mein Kinderbuch habe, wird es wahrscheinlich sehr kritisch beäugt, wenn ich als Kinderbuchautorin mit einem Buch für Erwachsene kommen würde. Umgekehrt ist es ganz anders: Wenn jemand aus der allgemeinen Literatur ein Kinderbuch schreibt, wird das eher wohlwollend aufgenommen. Ich finde es schade, dass sich dieser Graben nicht ein bisschen schließt. Ich finde nicht grundsätzlich schlecht, dass es als Orientierungshilfe die Bezeichnung „Kinder- und Jugendliteratur“ gibt. Aber dass so wenig übergreifend gelesen wird, finde ich total schade, weil ich tatsächlich gern Kinder- und Jugendliteratur lese, und daraus genauso viel ziehen kann wie aus Erwachsenenliteratur.

Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Steinkellner, für dieses spannende Gespräch und die schöne Lesung.

Zuletzt geändert am 6. März 2024